Spielregeln für Zauberer
Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, Camille Saint-Saëns und Maurice Ravel
Mit »Turcheria«: Mozarts Violinkonzert A-Dur KV 219
A-Moll, natürlich: Wenn Wolfgang Amadeus Mozart der musikalischen Türkenmode seiner Zeit huldigen wollte, war a-Moll die angemessene Tonart: Im Allegretto Alla Turcader Klaviersonate KV 331, in der Presto-Ouvertüre der Entführung aus dem Serail KV 384, im Refrain des Final-Rondos der apokryphen, sogenannten Odense-Symphonie KV 16a / Anh. 220 – und eben auch im 2/4-Takt-Allegro, das im Final-Rondeau des Violinkonzerts KV 219 plötzlich in das galante Tempo di Menuetto hineinfährt. Die forte-piano-Akzente, die simple Wechsel-Harmonik mit chromatischen Trübungen, das »coll’arco al roverscio«-Spiel der Celli und Bässe (mit dem Holz auf die Saiten schlagend) – es waren sicher diese rund 130 Takte, denen das Konzert seine besondere Popularität verdankte und verdankt. Das »türkische« Thema findet sich übrigens bereits im letzten Satz der (nur in Skizzen überlieferten) Ballettmusik Le gelosie del Serraglio KV 135a / Anh. 109, die Mozart im Dezember 1772 für seine Mailänder Oper Lucio Silla KV 135 komponiert hatte. Auch in Salzburg waren solche »Turcherien« sehr beliebt, wie etwa Michael Haydns Bühnenmusik zu Voltaires Zaire zeigt, über die Leopold Mozart (am 6. Oktober 1777) berichtet: »Unter einem Act war ein Arioso mit Variationen für Violoncell, Flauti, Oboe etc., und ohngefähr da eben eine piano Variation vorausging, trat eine Variation mit der türkischen Musik ein, welches so gähe und unvermuthet kam, daß alle Frauenzimmer erschraken und ein Gelächter entstand.« Ein ganz ähnlicher Überraschungseffekt also, wie ihn das A-Dur-Konzert in seinem Finale bietet.
Es ist das letzte der fünf authentischen Violinkonzerte Mozarts, von denen die Nummern 2 bis 5 innerhalb eines ganz kurzen Zeitraums entstanden sind, zwischen Juni und Dezember 1775 in Salzburg – und zwar wahrscheinlich nicht für ihn selbst, sondern für Antonio Brunetti, den Konzertmeister der fürsterzbischöflichen Hofkapelle. Hinzu kommen noch drei später, gleichfalls für Brunetti komponierte Einzelsätze – ein Adagio (KV 261) und zwei Rondos (KV 269 und 373) – sowie ein verlorenes Andante in A-Dur (KV 470). Dabei war Mozart durchaus in der Lage, seine Konzerte auch selbst zu spielen. Den ersten Geigenunterricht hatte er natürlich von seinem Vater Leopold erhalten, und er muss ein recht passabler Violinist gewesen sein, bis er das Instrument mehr und mehr durch das Klavier ersetzte. Schon auf der ersten Italienreise berichtet Leopold, »der Wolfg: [...] geigt, aber nicht öffent:[lich]«.
Gerade er bedauerte es sehr, dass Wolfgang »sein« Instrument nicht mehr regelmäßig zur Hand nahm, und ließ nicht ab, ihn zu ermahnen – etwa im Oktober 1777: »du weist selbst nicht wie gut du Violin spielst, wenn du nur die Ehre geben und mit Figur, Herzhaftigkeit, und Geist spielen willst, ia, so, als wärest du der erste Violinspieler in Europa. [...] ò wie manchmal wirst du einen Violinspieler, der hochgeschätzt wird, hören, mit dem du Mitleiden haben wirst!«
»Trop célèbre«: Saint-Saënsʼ Introduction et Rondo capriccioso op. 28
Auch das Konzertstück Introduction et Rondo capriccioso op. 28 von Camille Saint-Saëns steht in a-Moll – dem Charakter nach ist es allerdings nicht »alla turca«, sondern »plus espagnol que jamais« (spanischer denn je), wie der Komponist am 30. Dezember 1884 an den Dirigenten Joseph Dupont schreibt. In einer Aufführungsrezension wird das Werk als »eine Art Fantaisie-Valse à l’espagnole« beschrieben, und tatsächlich ist der synkopierte 6/8-Rhythmus des Rondos eindeutig spanisch gefärbt – vage angelehnt an die Asymmetrien einer Seguiriya –, was zweifellos dem Widmungsträger Pablo de Sarasate geschuldet ist. 1859 waren sich der 24-jährige Komponist und der neun Jahre jüngere spanische Geiger erstmals begegnet. Sarasate hatte gerade sein Studium bei Joseph Massart am Pariser Conservatoire beendet »und stand eines Tages vor meiner Tür – ganz jung noch, und kaum einen Bartflaum über den Lippen«, erinnerte sich Saint-Saëns später. »Als sei es die einfachste Sache von der Welt, bat er mich sehr freundlich und liebenswürdig, ein Violinkonzert für ihn zu schreiben. Ich war durchaus geschmeichelt und fand ihn zudem sehr charmant, so dass ich ohne Umstände zusagte.« Es war der Beginn einer herzlichen und intensiven Künstlerfreundschaft, die bis zu Sarasates Tod am 20. September 1908 währte und der sich neben den beiden Violinkonzerten Nr. 1 A-Dur op. 20 (1859) und Nr. 3 h-Moll op. 61 (1880) eben jenes Konzertstück verdankt, das bis heute zum Kernrepertoire aller großen Geiger gehört. Ursprünglich sollten Introduction et Rondo capriccioso wohl das Finale des – letztendlich einsätzigen – A-Dur-Konzerts werden, und beide Werke wurden auch in demselben Konzert am 4. April 1867 unmittelbar nacheinander unter der Leitung von Saint-Saëns und mit Sarasate als Solist uraufgeführt. Doch das Stück entwickelte schnell ein so erfolgreiches Eigenleben, dass der Komponist selbst es später sogar als »trop célèbre« (allzu berühmt) apostrophierte. Die Prominenz des Werkes zeigt sich auch in derjenigen seiner Bearbeiter: Georges Bizet richtete 1874 die Fassung für Violine und Klavier ein, Claude Debussy 1889 ein Arrangement für zwei Klaviere.
Ein Kaleidoskop (alb)traumhafter Bilder: Ravels L’Enfant et les Sortilèges
Im Mai 1921 bezog Maurice Ravel die Villa Le Belvédère in Montfort-l’Amaury, einem kleinen Dorf westlich von Paris. Das Interieur des Hauses: fantastische Tapeten, vom Komponisten selbst entworfen, ebenso wie die Ornamente auf dem Marmor des Kamins, zierliche Möbel im Stil der Arts décoratifs des Fin de siècle, und eine immer größer werdende »Sammlung von Fälschungen«, wie es die Geigerin Hélène Jourdan-Morhange nannte, über alle Räume verteilt. Gotische Aschenbecher, Nippesfiguren und imitiertes chinesisches Porzellan, eine mechanische Nachtigall mit Spielwerk, Chinoiserien, auf dem Flügel – von zwei schweren Metalllampen mit ziselierten Milchglaskugeln in diffuses Licht getaucht – ein Glassturz, unter dem Schiffe sich auf einem Meer von Muscheln, Blumen und Seesternen zu wiegen scheinen. Nicht anders der Garten dieser gewaltigen Spielzeugschachtel: ein mit Bonsais und ähnlichen Zwergpflanzen kunstvoll hergerichteter Mikrokosmos, in dem sich der nur 1,58 Meter große Komponist wie ein neuzeitlicher Gulliver vorgekommen sein mag, ein geheimnisvoller Jardin féerique, wie ihn das letzte Stück der Suite Ma Mère l'Oye beschwört. In dieser Zauberwelt von Le Belvédère liegt der Schlüssel zu Ravels Wesen verborgen, zu seinem »Genie, das doch nichts anderes ist als die wiedergefundene Kindheit«, wie es in einem Aphorismus von Charles Baudelaire heißt. Scheu und hypersensibel, fernab von der Klarheit und selbstsicheren Kraft eines Debussy, schuf sich Ravel ein mystisches Reich – ein »künstliches Paradies«, in dessen Schutz er in den Träumen eines Kindes versank, aus denen seine Musik entspringt. L’Enfant et les Sortilèges – Ravel und seine Märchenwelt: wunderbare Verschmelzung von Schöpfer und Werk, die Hans Heinz Stuckenschmidt zu Recht als »sein opus summum schlechthin« bezeichnet hat.
Im Auftrag von Jacques Rouché, dem Direktor der Pariser Opéra, hatte die französische Schriftstellerin (SidonieGabrielle) Colette 1916 ein Libretto verfasst, das unter dem Arbeitstitel Ballet pourma fille (Ballett für meine Tochter) Ravel zur Vertonung angetragen wurde. »Er sagte ja«, erinnerte sich Colette später, »trug mein Libretto heim, und wir hörten nichts mehr von ihm.« Auf eine vorsichtig drängende Anfrage, wie weit denn die Partitur gediehen sei, erklärte Ravel am 27. Februar 1919: »Ich habe sogar schon mit dem Gedanken gespielt, Sie zu fragen, ob Sie mit einem so unzuverlässigen Mitarbeiter wie mir überhaupt weitermachen wollen. […] Im Grunde arbeite ich schon an unserer Oper und mache mir Notizen, ohne eine einzige Note zu Papier zu bringen.«
»Fünf Jahre vergingen«, fährt Colette in ihren Erinnerungen fort, »und ich gewöhnte mir allmählich ab, an LʼEnfant et lesSortilèges zu denken«, wie das Werk später getauft wurde. Es war Raoul Gunsbourg, der Direktor der Oper von Monte Carlo, dessen hartnäckigem Drängen Ravel schließlich nachgab und dem er im Sommer 1924 die Ablieferung der Partitur bis zum Jahresende vertraglich zusicherte. »Ich rühre mich nicht von der Stelle und sehe niemanden außer meinen Fröschen, Negern, Hirten und anderen Insekten«, klagte der Komponist aus Montfort-l’Amaury. So konnten, zu Colettes und Gunsbourgs größter Freude, im Januar 1925 tatsächlich die Proben beginnen, und am 21. März fand die triumphale Uraufführung von LʼEnfant et lesSortilèges statt. Unter der Leitung von Victor de Sabata, »einem Dirigenten, wie ich ihm nie zuvor begegnet bin« (so der Komponist), sang Marie-Thérèse Gauley, »die wirklich wie ein sechsjähriges Kind aussieht und eine bezaubernde Stimme hat«, die Titelrolle – ebenso wie an der Pariser Opéra-Comique, die das Werk im Februar des folgenden Jahres herausbrachte; am Pult stand dort Albert Wolff, seit 1911 musikalischer Leiter des Hauses. In Paris fand die Oper allerdings eine zwiespältige Aufnahme, wie Colette berichtet: »Die Verteidiger der alten Musik können dem Komponisten Ravel seine instrumentalen und vokalen Kühnheiten nicht vergeben. Die für die Moderne Begeisterten applaudieren und buhen die anderen nieder, und während des Katzenduetts herrscht ein fürchterlicher Tumult.« Ravel mag solche Proteste geahnt haben, als er 1920 an seinen Freund Roland-Manuel schrieb: »Dieses Werk wird sich durch eine Mischung von Stilen auszeichnen, die auf scharfe Kritik stoßen dürfte; Colette wird das egal sein, und ich kümmere mich einen Dreck darum.«
Das Libretto, dessen Grundgedanke an die wunderbaren Abenteuer des Nils Holgersson erinnert, des Romanhelden der schwedischen Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf, reiht in der Art eines Kaleidoskops (alb)traumhafte Bilder von so unterschiedlicher Prägung aneinander, dass es die stilistische Melange der Musik gleichsam herausfordert. Manche Teile des Texts – der Foxtrott von englischer Teekanne und chinesischer Tasse zum Beispiel, und das Katzenduett – waren nach genauen Anweisungen Ravels gestaltet, der in L'Enfant et lesSortilèges ein wahres Feuerwerk von Klängen und Rhythmen entfesselte. Ihr Spektrum reicht vom mittelalterlichen Organum (die in parallelen Quarten und Quinten fortschreitenden Oboen der Einleitung) über barocke Tanzformen bis hin zum Jazz. »Mein Hauptanliegen galt hier der Melodik«, notierte der Komponist in einer autobiografischen Skizze, »und das Sujet kam mir dabei entgegen. Es gefiel mir, die Vertonung im Geist einer amerikanischen Operette zu halten; das Libretto von Madame Colette rechtfertigt diese Freiheit in dem Zauberspiel. Der Gesang ist es, der hier dominiert; das Orchester, ohne instrumentale Virtuosität zu verschmähen, bleibt dabei freilich im Hintergrund.«
Es ist sicher kein Zufall, dass Ravel die Partitur der Oper in Le Belvédère niederschrieb; jede Seite strömt diese »Atmosphäre der Zärtlichkeit und den feinsinnigen Pantheismus« (Émile Vuillermoz in Excelsior)aus, die den Komponisten in Montfort-lʼAmaury umgaben. Wenn sich das Kind im zweiten Teil vor den zu riesenhafter Größe gewachsenen Katzen ins Freie flüchtet, scheint das Szenario den Garten von Montfort-l’Amaury zu beschreiben: »Bäume, Blumen, ein winziger grüner Teich und ein efeubewachsener Baumstumpf« schimmern im Mondlicht; man hört »die Musik der Insekten, der Frösche und Kröten, das Lachen der Käuzchen, das Murmeln des Windes und Nachtigallen.« Der Zauber dieses Märchenreiches ist durch LʼEnfant et lesSortilèges unsterblich geworden.
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Noch ein letztes Wort zu einer heimlichen Filiation des heutigen Programms: Für Saint-Saëns war Mozart zeitlebens eines seiner großen Vorbilder, dessen Klavierkonzerte er immer wieder aufgeführt und viele von ihnen mit eigenen Kadenzen bereichert hat; dass er auch (1918 für den Geiger Émile Mendels) drei Kadenzen zum A-Dur-Violinkonzert KV 219 geschrieben hat, ist freilich kaum bekannt… Und Maurice Ravel, der – ganz im Gegensatz zu Claude Debussy – den 40 Jahre älteren Kollegen sehr hoch schätzte, erklärte seinerseits zum eigenen G-Dur-Klavierkonzert, es sei »im Geist der Konzerte Mozarts und Saint-Saënsʼ geschrieben«. Während ihr gemeinsamer Verleger Jacques Durand über Ravels Tzigane für Violine und Klavier bzw. Orchester befand, nun gebe es »endlich ein virtuoses Gegenstück, das dem Rondo capriccioso ebenbürtig« sei.
Michael Stegemann