Ein Akt der Völkerverständigung
Kammermusik aus Europa und Asien
François Couperin: Sonate L’Espagnole aus Les Nations
Zweifellos gehörte François Couperin als Hoforganist und Cembalolehrer am Hof Ludwigs XIV. zu den herausragenden Komponisten des französischen Musiklebens, im Vorwort zur 1726 gedruckten Sammlung von Triosonaten Les Nations gab er sich dennoch über alle Maßen selbstbewusst: »Die erste Sonate dieser Sammlung war die erste, die ich geschrieben habe und die überhaupt in Frankreich entstanden ist.« Die Triosonate, diese »am meisten gepflegte instrumentale Ensembleform der Barockzeit« (Karl Heinz Wörner), war in Couperins Worten also von ihm in Frankreich etabliert worden. Eine gewagte Feststellung, die aber einiges für sich hatte. Schließlich konnte sich Couperin wie kein zweiter auf die Fahnen schreiben, die Wurzeln der Gattung studiert zu haben. In seinem Bücherregal standen Werke des bewunderten Arcangelo Corelli, der schon vor 1700 die Gestalt der Triosonate gebündelt und definiert hatte: Zwei Melodiestimmen wurden getragen von einem üppigen, gerne mit mehreren Instrumenten gespielten Bass. Drei durch eine langsame Einleitung vorbereitete Tanzsätze in der Sonata da camera, vier kunstvoll mehrstimmig ausgearbeitete Sätze in wechselnden Tempi in der Sonata da chiesa waren die Regel geworden. Der Musiker Sébastien de Brossard bemerkte, dass im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts »alle Komponisten aus Paris, vor allem die Organisten, darauf brannten, Sonaten im italienischen Stil zu komponieren«. Er bezog sich damit offensichtlich auf seinen Kollegen und Zeitgenossen Couperin, dessen erste Triosonaten er besaß.
Vier dieser Werke für zwei Geigen, Gambe und ein Tasteninstrument wurden, nach langem Drängen seiner Freunde, von Couperin 1726 unter dem Titel Les Nations veröffentlicht. Er stellte sich hier einer schwierigen Aufgabe: der Vereinigung der musikalischen Stile Italiens und Frankreichs. In Les Nations ist diese Aussöhnung schon an der äußeren Form abzulesen. Jede der vier Triosonaten enthält Sätze typisch italienischer Prägung, die mit einer französischen Suite kombiniert sind. Spuren beider Stile und Couperins Beschäftigung mit ihnen lassen sich bis in kleinste musikalische Motive nachweisen. Nicht nur die endgültige Gestalt, auch ihre heute geläufigen Namen haben die einzelnen Triosonaten erst bei der Drucklegung erhalten. L’Espagnole trug ursprünglich den Beinamen La Visionnaire. Die Umwidmung erfolgte nicht etwa, um spanisches Kolorit anzudeuten (das sich kaum finden lassen dürfte), sondern vermutlich eher, um dem komplizierten Verhältnis des französischen Hofs zur spanischen Krone eine positive Facette hinzuzufügen.
Jan Dismas Zelenka: Die Triosonaten Nr. 4 g-Moll und Nr. 5 F-Dur ZWV 181
Als Musiker in Diensten der renommierten Dresdner Hofkapelle verfügte der ursprünglich aus Prag stammende (und damit dem Ensemble Berlin Prag als Pate stehende) Jan Dismas Zelenka über ausreichend Studienmaterial zur Erforschung von Triosonaten der Zeitgenossen und älterer Kollegen. Für seine sechs eigenen Beiträge zur Gattung, entstanden wohl um 1720, bezog er sich nicht mehr auf die ursprünglich stilprägenden Italiener, sondern auf die am Dresdner Hof besonders geschätzten französischen Komponisten, was einerseits in der gewählten Besetzung mit Holzbläsern (zwei Oboen, Fagott und Basso Continuo) aufscheint, aber auch in einigen Details wie der Bezeichnung »Hautbois« für die Oboe erkennbar ist. Dass die Sonaten, wie es Zelenka im Fall der Sontate Nr. 4 in g-Moll selbst aufgeschrieben hat, für »2 Hautbois e dui Bassi obligati« komponiert sind, verdeutlicht, dass ihr Schöpfer in diesen Werken – wie so oft – den tradierten Rahmen zu sprengen bereit war. Das Fagott, eigentlich Teil einer zusammengehörigen Bassgruppe, bekommt hier den Status einer eigenständigen Stimme zugewiesen, sodass die ursprüngliche Dreistimmigkeit teilweise erweitert wird. Auch darüber hinaus experimentierte er und lotete Grenzen aus. Die Proportionen der Sätze zueinander wurden individuell zugeschnitten, der ansonsten auch mal höfische und glatte Ausdruck zu hoher Expressivität verdichtet. Zwei neue, Zelenkas Musik hinsichtlich Experimentierwillens in nichts nachstehende Studien versuchen gar nachzuweisen, dass der streng katholische Komponist in den sechs Triosonaten verklausuliert von einer homosexuellen Veranlagung berichten wollte. Nicht zuletzt solche Ableitungen sind Symptom des persönlichen Ausdrucks, der das Schaffen des Böhmen auszeichnet und seine Werke seit einigen Jahren immer populärer werden lässt.
Johann Sebastian Bach: Triosonate Nr. 6 G-Dur BWV 530
Am 15. Oktober 1714 fiel unweit des Örtchens Kerstenleben in Thüringen nahezu das gesamte Gepäck einer Reisegruppe von der sie befördernden Postkutsche. Zu den Betroffenen gehörte auch der Geiger Johann Georg Pisendel, ein Kollege Zelenkas an der Dresdner Hofkapelle, der auf seinem Rückweg an seine Arbeitsstelle weitaus wertvollere Fracht mit sich führte als nur das für einen mehrtägigen Ausflug von Dresden nach Paris Nötigste (sonst würde man diese Episode eher dem sprichwörtlichen Sack Reis in China beistellen). In Paris waren Pisendel einige Seiten aus François Couperins (bisher ungedruckten) Triosonaten Les Nations in die Hände gelangt, die er in großer Hast und daher auch mit einigen Fehlern behaftet abgeschrieben hatte und nun im Gepäck Richtung Sachsen mit sich führte. Dieses Dokument war von dem ansonsten sicher lästigen Verlust des Gepäcks glücklicherweise nicht betroffen, Pisendel konnte es schließlich wohlbehalten dem befreundeten Weimarer Konzertmeister und Hoforganisten Johann Sebastian Bach übergeben. Der mitteldeutsche Tonsetzer überführte Couperins Musik – ein seit Kindertagen erprobtes lehrreiches Verfahren – recht bald in ein eigenes Orgeltrio Aria BWV 587. Eigentlich nicht mehr auf grundlegende Studien angewiesen, wird Bach diesen Satz einer französischen Triosonate mit besonderem Interesse durchgesehen haben, denn für ihn war »der obligate [Satz] tendenziell ein dreistimmiger Satz«, in dem die Stimmen »generell unabhängig – das heißt auch unabhängig von einem mitlaufenden Harmoniebaß – zu führen« waren (Martin Geck). Da machte es auch keinen Unterschied, dass Couperin seine Musik für ein Kammerensemble, Bach seine Übertragung aber für ein Tasteninstrument mit zwei Manualen und Pedal (entweder Orgel oder eher noch Pedalclavichord) komponierte; der demokratischen Gleichberechtigung der Stimmen lässt sich an einem Tasteninstrument fast besser folgen denn als Teil eines Ensembles.
Die Sicherheit in der Beherrschung dreier gleichberechtigter Stimmen schien Bach für einen Musiker so essentiell zu sein, dass er wiederum einige Jahre später für seinen Sohn Wilhelm Friedemann eine Sammlung eigener Triosonaten erstellte, die dieser zum Abschluss seiner Ausbildung von seinem Vater überreicht bekam, darunter auch sechs Orgeltrios (von ihm selbst Sonatas 1 – 6 genannt) BWV 525 – 530. Um 1730 schrieb Bach das Notenheft, kombinierte ältere mit neuen, teils extra komponierten Sätzen und fügte sie in innovativer Gestalt zusammen. Corellis stilprägende Beiträge lagen nun ja fast 50 Jahre zurück, inzwischen waren die Sonata da camera und die Sonata da chiesa zu einer leichteren »Sonate auf Concertenart« (Johann Adolph Scheibe) verschmolzen, in der zwei schnelle Sätze einen langsamen Mittelsatz umrahmten. Bachs Sohn Carl Philipp, dem die Heiligsprechung der Musik seines Vaters heutiger Prägung noch fremd sein musste, bemerkte 1788 dazu nonchalant, die sechs Trios für seinen Bruder Wilhelm Friedemann seien »so galant gesetzt […], daß sie jetzt noch sehr gut klingen«. Und doch war Bach spät dran mit seinen Orgeltrios. Die Aufklärung forderte »das Prinzip der Natürlichkeit und leichten Fasslichkeit« (Martin Geck), was zwei gleichberechtigte Melodiestimmen zunehmend unpopulär werden ließ.
Isang Yun: VierInventionen für zwei Oboen
Dem musikalischen Prinzip zweier aufeinander bezogener Stimmen konnte auch Isang Yun etwas abgewinnen, denn zwei einzelne Stimmen fordern zu besonders großer künstlerischer Kreativität heraus: zur Darstellung von Einheit in der Vielfalt. Yun, 1917 in Südkorea geboren, hatte bei seinen Studien in Paris und im Westteil Berlins zwar Verfahren und Instrumente der westlichen Avantgarde kennengelernt, das taoistische Denken seiner asiatischen Heimat aber bildete in letzter Instanz den Kern seiner Musik. Der größte Unterschied zur westlichen Musik lag für ihn in der Bedeutung des Einzeltons. War dieser für europäische Komponisten zu fast allen Zeiten Baustein einer Melodie oder eines Akkords, und damit Teil eines wichtigeren Komplexes, stand er bei Yun im Mittelpunkt: »Während in der Musik Europas erst die Ton-Folge Leben gewinnt, wobei der einzelne Ton relativ abstrakt sein kann, lebt bei uns schon der Ton für sich.« Paradox mutet an, dass der einzelne Ton dabei nicht auf ein einzelnes Instrument beschränkt sein musste.
In den Vier Inventionen für zwei Oboen, uraufgeführt im April 1984 bei den Wittener Tagen für Neue Musik, ist die Bedeutung der »Haupttönigkeit« durch zwei Aspekte verschleiert, aber nicht aufgelöst. Erst einmal spielen zwei Musiker, was für kompetitive Ohren mehr Gegen- als Miteinander impliziert. Der ähnliche Gestus der beiden Stimmen macht jedoch schnell deutlich, dass hier ein- und dieselbe Sache verhandelt wird. Eine außermusikalische Inspiration sei es für ihn, meinte Yun einmal, »wenn ich z. B. vom Fenster aus zwei Zweige sehe, die sich im Winde bewegen und sich zitternd berühren«. In diesem Bild zeigen sich sowohl die Beziehung zweier getrennter Teile zueinander, wie auch die absichtslose Fortschreitung in der Zeit, die Yun sich kompositorisch nutzbar machte, denn der Einzelton »ist das Leben selbst. Er muss alles unternehmen, um weiterzuleben, weiter, weiter«. So entwickeln sich auch die Vier Inventionen immer wieder überraschend, folgen ihrem eigenen, keinem vorgefertigten, musikalischen Gesetz. Verunklart, gleichzeitig aber auch belebt, wird der einzelne Klang in den ersten drei Sätzen außerdem durch die in ihren jeweiligen Titeln genannten Verfahren. Würden die Triller des Beginns weggelassen, bliebe eine schlichte Weise übrig. Dergleichen im folgenden Teil, der durch Glissandi deutlich an Klangreibung gewinnt. Kurze Noten vor den Haupttönen (Vorschläge) bestimmen das Geschehen an dritter Stelle. Erst im vierten Satz tritt der aus zwei Stimmen gebildete eine Ton deutlich hervor, bevor er am Ende, durch Triller wieder verschleiert, in die Höhe entschwindet. Für diesen letzten Satz (Harmonie) ließ Yun Worte des an asiatischer Philosophie interessierten Hermann Hesse gelten, der der Musik eine einzigartige Rolle zusprach: »Wäre ich ein Musiker, so könnte ich ohne Schwierigkeiten eine zweistimmige Melodie schreiben, eine Melodie, welche aus zwei Linien besteht, aus zwei Ton- und Notenreihen, die einander entsprechen, einander ergänzen, einander bekämpfen, einander bedingen, jedenfalls aber in jedem Augenblick, auf jedem Punkt der Reihe in der innigsten, lebendigsten Wechselwirkung und gegenseitigen Beziehung stehen. Und jeder, der Noten zu lesen versteht, könnte meine Doppelmelodie ablesen, sähe zu jedem Ton stets den Gegenton, den Bruder, den Feind, den Antipoden. Nun, und eben dies, diese Zweistimmigkeit und ewig schreitende Antithese, diese Doppellinie möchte ich mit meinem Material, mit Worten, zum Ausdruck bringen und arbeite mich wund, und es geht nicht.«
Daniel Frosch