Die kreative Kraft des Hörens
Musik von Wolfgang Rihm, Robert Schumann und Vito Žuraj
»Der Komponist notiert Musik nicht an der Musik, sondern vor der Musik, auf diese hin, außerdem – das Verb ›notieren‹ weist darauf hin – in einem anderen Medium«, schrieb Wolfgang Rihm 1986 und führte weiter aus: »Der Hörer hört die Musik, nachdem sie war. Musik scheint vor und nach sich selbst existent zu sein als Ahnung und Spur. Dazwischen, als sie selbst, ist sie nicht. Man kann es radikal so formulieren: Reden über Musik ist reden über etwas, das es nicht gibt. Hinzukommt, dass von diesem, das es nicht gibt, begriffliche Vorgaben vorliegen, Notationen, die auf ein Unbegriffliches verweisen, das Klanggeschehen, das aber sehr wohl durch verständiges Hören begriffen werden kann.« Drei Jahre bevor er diese Überlegungen zu Papier brachte, hatte Rihm eine Komposition für Klavier und sieben Instrumente in Angriff genommen, die den Titel Chiffre erhalten sollte. Noch während der Arbeit an diesem Stück nahm er ein weiteres Werk – Silence to be beaten für 14 Spieler – in Angriff. Schon bald stellte sich zu Rihms eigener Überraschung heraus, dass zwischen den beiden Kompositionen subkutane Querverbindungen bestanden. Diesen maß Rihm schließlich eine so große Bedeutung zu, dass er das neue Stück Chiffre II überschrieb, das erste in Chiffre I umbenannte. Damit war der Startschuss für eine im Rahmen von über 20 Jahren entstehende, insgesamt neun Kompositionen für unterschiedliche Besetzungen umfassende Werkreihe gegeben: Chiffre I bis Chiffre XIII (1983 – 1988) sowie Nachschrift. Eine Chiffre (1982/2004). Laut Rihm handelt es sich bei diesen Kompositionen um »Versuche, eine Musiksprache zu finden, die frei ist von Verlaufs- und Verarbeitungsvorgaben. Es geht um freie Setzung des Einzelereignisses, unherbeigeführt, folgenlos im engeren Sinn – freie Fortzeugung eines Imaginationsraumes; Suche nach Klangobjekten, nach Klangzeichen, einer Klangschrift.« So liegen dem Chiffre-Zyklus wichtige Konstanten in Rihms Œuvre zugrunde – u. a. die Frage nach den Wechselwirkungen von Musik und (Noten-)Schrift, Klang(-Sprache) und Bild sowie – und das nicht zuletzt! – von Komponieren und Hören als kreative Prozesse.
Wolfgang Rihm: Chiffre II und Mnemosyne
Im Gegensatz zu Chiffre I für Klavier und sieben Instrumente wird in der 14-minütigen Komposition Chiffre II. Silence to be beaten der virtuos angelegte Klavierpart nicht länger als Gegenspieler, sondern als integraler Bestandteil des nunmehr 14 Spieler umfassenden Ensembles behandelt. Das wirkt sich unmittelbar auf den Klangcharakter des Stücks aus, wenn beispielsweise Versuche eines »Alleingangs« des Klaviers von den anderen Instrumenten immer wieder korrigiert werden. Seinen eruptiv-dramatischen Charakter bezieht Chiffre II aus starken Kontrasten zwischen Passagen, in denen die Musik zu verstummen droht, und kraftvollen dynamischen, mitunter aber auch überraschend lyrischen Akzenten. Welche Stille hier mit welchen Mitteln geschlagen werden soll, darüber gibt auch der Untertitel der Komposition keine verlässliche Auskunft: Er fordert allenfalls auf, im Spannungsfeld zwischen begrifflichem Denken und begreifendem Hören eigene Zugangspunkte in das Werk zu finden – möglicherweise mit dem Ergebnis, dass es am Ende – so Rihm – »den Hörer anblickt mit einer Frage, zumindest einem ganz anderen Aspekt, der vorher noch gar nicht da war«.
Rihms ein knappes Vierteljahrhundert nach Chiffre II im Auftrag der Berliner Philharmoniker entstandene Komposition Mnemosyne für hohen Sopran und Ensemble widmete der Komponist Claudio Abbado zu dessen 75. Geburtstag; uraufgeführt wurde das rund achtminütige Stück am 20. Mai 2009 in einem unter dem Motto »Hommage an Claudio« stehenden Sonderkonzert der Stiftung Berliner Philharmoniker. Dem langjährigen, 2014 verstorbenen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker hat Rihm nach eigener Aussage sehr viel zu verdanken: Abbados »lebendiges Interesse und seine tätige Treue haben meiner Musik zu ungemein weiter Resonanz verholfen«. Schon bei seinem Amtsantritt hatte der Italiener ein Werk von Rihm auf das Programm gesetzt. Damit waren die Weichen für eine langjährige Zusammenarbeit gestellt, die im Rahmen des mittlerweile legendären Hölderlin-Zyklus der Saison 1992/1993 einen ihrer Höhepunkte fand. Es erstaunt daher nicht, dass Rihm einen Text Hölderlins zum Ausgangspunkt für seine kompositorische Hommage an die Person und das künstlerische Wirken Abbados machte: einen in drei Fassungen überlieferten, dennoch Fragment gebliebenen Hymnus an die griechische Göttin der Erinnerung.
Als Grundlage seiner Mnemosyne-Vertonung wählt Rihm den ersten, wohl enigmatischsten Entwurf Hölderlins: Pantheistische Naturvorstellungen treffen ebenso unvermittelt auf bürgerliche Moralcodices und christliche Glaubensinhalte wie auf die Abgründe, die sich zwischen ihnen auftun. Diese Gegensätze werden von Rihm kompositorisch weniger akzentuiert, geschweige denn illustriert als vielmehr – in (un)-bewusstem Reflex auf Hölderlins sprachlichen Duktus? – mit einer geradezu belkantistisch anmutenden kompositorischen Eleganz einer Musik anverwandelt, die den Vergleich mit den Sprachvertonungen eines Alban Berg nicht scheuen muss.
Robert Schumann: Klavierquintett Es-Dur op. 44
»Ich möchte mein Klavier zerschlagen«, schrieb Robert Schumann in das gemeinsam mit seiner Frau Clara geführte Ehetagebuch und bezeugte damit die unterschwellige Feindseligkeit, von der die ersten Ehejahre der Schumanns mitunter begleitet wurde: Der Komponist neidete Clara den Erfolg als Pianistin, weil es mit seinem Selbstverständnis nicht vereinbar war, dass eines ihrer Konzerte mehr Geld in die Haushaltskasse brachte, als ein halbes Jahr seiner publizistischen und kompositorischen Arbeit. Clara übte Rücksicht und lehnte Konzertangebote fortan ab: »Robert wünscht es nicht.« Statt weiterhin eine Laufbahn als Virtuosin zu verfolgen, riet Schumann seiner Frau, sich dem Komponieren zuzuwenden. Mit strenger Kritik wusste er ihr Selbstbewusstsein dann aber so lange zu zermürben, bis sie selbst befand, sie habe »gar kein Talent zur Komposition«. Auch Frau Schumann mag hin und wieder den Drang verspürt hat, aus Enttäuschung oder unterdrückter Wut ihr Instrument in Stücke zu hauen...
Obwohl die Verhältnisse des Künstlerpaars keineswegs beengt waren und in der gemeinsamen Leipziger Wohnung zwei Flügel zur Verfügung standen, kam es im Alltagsleben zu weiteren Spannungen. Dem gemeinschaftlichen Tagebuch ist so etwa zu entnehmen, dass die »leichten Wände« des Hauses es den Eheleuten unmöglich machten, gleichzeitig der Ausübung ihrer künstlerischen Arbeit nachzugehen. Auch in diesem Punkt trug Robert bald den Sieg davon: Clara durfte nur noch dann üben, wenn ihr Gatte außer Haus war. Man stelle sich daher einmal folgende Szene vor: Schumann sitzt in seinem Arbeitszimmer und möchte komponieren, aber im Nebenzimmer bearbeitet Clara bei ihren täglichen Exerzitien derart das Klavier, dass sich vor lauter Tonleitern und Akkordketten kein klarer musikalischer Gedanke fangen lässt. Dem geplagten Ehemann und Komponisten bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder legt er die Feder beiseite und geht spazieren, bis Clara ihre Etüden beendet hat und sich statt dem Klavier wieder Kind und Küche widmet (Robert zufolge Claras »Hauptberuf«); oder er macht aus der Not eine Tugend und verarbeitet die Klangkaskaden seiner Frau in einer Komposition.
Als Schumann im Herbst 1842 über dem dritten Satz seines Klavierquintetts op. 44 saß, entschied er sich offensichtlich für die zweite Möglichkeit: Man kann es nur als liebevollen Seitenhieb auf Claras Übeaktivitäten auffassen, dass das Thema dieses Scherzos aus einer rhythmisierten Es-Dur-Tonleiter besteht, die zunächst über dreieinhalb Oktaven auf- und wieder abgeführt wird, um dann ganz in Etüdenmanier in endlosen Sequenzen durch diverse Tonarten geschickt zu werden. Im ersten Trio des Satzes zeigt sich Schumann zunächst nachsichtig (das aus zwei Quinten gebildete Kopfmotiv stellt eine der zahlreichen Chiffren dar, mit denen Robert und Clara in ihren Kompositionen eine Art musikalischer Geheimsprache entwickelten), im zweiten hingegen ist er schon am Rande der Raserei. Bei den drei dissonanten verminderten Septakkorden, die während der Coda des Satzes zwischen das Thema fahren, hört und sieht man dann förmlich, wie der gereizte Schumann den Flügel zuschlägt! Es mag zweifelhaft erscheinen, sich auf diesem Weg dem schumannschen Klavierquintett zu nähern. Aber die aller privaten Widrigkeiten zum Trotz überströmende Lebensfreude, die aus dem Werk spricht, sanktioniert eine entsprechend unorthodoxe Interpretation ebenso wie die Tatsache, dass Schumann auch in zahlreiche Kompositionen Biografisches in verschlüsselter Form einfließen ließ.
Ein energisches Thema mit weit ausholendem Kopfmotiv eröffnet klangvoll das Werk. Für einen schwärmerischen Kontrast sorgt der episodische Seitensatz, der gleich zu Beginn in langen Sequenzketten mit seiner Umkehrung kombiniert wird, in der Durchführung dann aber bemerkenswerterweise ausgespart bleibt. Breite, figurative Klangflächen des Klavierparts beherrschen die Durchführung, welche der Widmungträgerin Clara, die das Werk mit dem Leipziger Gewandhaus-Quartett auch zur Uraufführung brachte, Gelegenheit bot, mit ihrem brillanten Spiel zu glänzen.
Der in fahlen Farben gehaltene zweite Satz lässt zunächst an den Trauermarsch aus Beethovens Eroica denken, doch spätestens, wenn im Nachsatz des Marschthemas das Violoncello einen Sextvorhalt zum folgenden Dominantseptakkord der Subdominante schwelgerisch auskostet, vergisst man über Schumanns Mediantenreichtum jeglichen Trübsinn. Nach dem unbändigen Scherzo scheint der Erfindergeist des Komponisten im Finale geradezu über die Stränge zu schlagen: Auf ein breit angelegtes Sonatenrondo, in dessen Verlauf das Thema des Satzes bereits einmal fugiert wird, lässt er nach einer breiten Zäsur eine Doppelfuge folgen, die dieses Thema mit jenem des Kopfsatzes kombiniert. Was Formpuristen wie ein Wurmfortsatz erschienen sein mag, einen erklärten Neutöner wie Franz Liszt gar zu dem mit weltmännischer Arroganz vorgetragenen Urteil verleitete, Schumanns Klavierquintett sei nicht nur »akademisch«, sondern auch gar zu »leipzigerisch«, stört uns nicht. Ihr trotz aller Spannungen offensichtlich erfülltes Zusammenleben beschrieben Clara und Robert Schumann im gemeinsam geführten Ehetagebuch mit den Worten »Ereignisse nur wenige, Glück die Fülle«.
Vito Žuraj: Alavò
Im Frühjahr 2016 erhielt der 1979 in Maribor geborene slowenischn Komponist Vito Žuraj den Claudio-Abbado-Kompositionspreis, der von der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker vergeben wird. Verbunden mit dieser Auszeichnung war der Auftrag, ein Werk für das heutige Konzert zu schreiben. Žuraj studierte von 1997 bis 2002 Komposition und Musiktheorie an der Musikakademie Ljubljana, danach an der Dresdner Hochschule für Musik »Carl Maria von Weber«. Ein Aufbaustudium führte ihn an die Karlsruher Kompositionsklasse von Wolfgang Rihm, zudem absolvierte er ein Studium der Musikinformatik ebenfalls an der Karlsruher Hochschule für Musik. Seit 2015 ist er als Professor für Komposition und Musiktheorie an der Musikakademie der Universität Ljubljana mit dem Aufbau eines Studios für elektronische Musik betraut; parallel dazu hat er einen Lehrauftrag in Karlsruhe inne. Einige der kraftvollen, nicht selten räumlich konzipierten Arbeiten des mit mehreren renommierten Preisen ausgezeichneten Musikers waren bereits auf den Programmen von Klangkörpern wie dem New York Philharmonic, dem BBC Scottish Symphony Orchestra, dem Ensemble Modern oder dem RIAS Kammerchor zu finden.
Alavò entstand zu großen Teilen in den Sommermonaten des Jahres 2017 während Žurajs Aufenthalten in der Villa Massimo der Deutschen Akademie in Rom und der Villa Orfeo der Wilhelm-Kempff-Kulturstiftung in Positano. Mit seiner Hommage an Claudio Abbado schuf der junge Komponist eine märchenhafte Musik, geeignet »Kinder mit einem Lied zu bezaubern, damit sie sanft einschlafen«, inspiriert auch von Abbados Erinnerungen an seine aus Palermo stammende Mutter, eine Kinderbuchautorin, die ihre Kinder mit ihren Erzählungen in den Bann zog. Deren Heimat Sizilien war es auch, die den Librettisten von Alavò, Patrick Hahn, in die Märchenwelt Italiens versetzt hat. Caterina die Kluge aus dem Buch Italienische Märchen von Italo Calvino und Sapia aus der mehr als 300 Jahre älteren Märchensammlung Pentameron von Giambattista Basile sind jeweils Variationen der Geschichte eines Mädchens, das mit seiner Klugheit und Schönheit den Prinzen von Palermo verführt und mit ihm eine sonderbare Wanderung zurücklegt. Hahn kombinierte die Handlung von Caterina die Kluge mit den Namen aus Sapia und verlegte das Geschehen in eine Traumwelt. In Alavò gibt es vier Ebenen, die jeweils verschiedene Bewusstseinszustände repräsentieren: Im »Wachzustand«trauert Sapia um ihre verstorbene Mutter, im Traum heiratet sie den Prinzen Carluccio und wandert mit ihm umher. Es folgt ein »Traum im Traum«, eingesperrt wie in einem Kerker, zersetzen sich die Gedanken der Protagonistin allmählich. Ruhe findet Sapia schließlich tief in ihrem »Unterbewusstsein«. »Dort erklingt die Stimme ihrer verstorbenen Mutter, die ihr wie im Zauber ein Wiegenlied singt. Ein zarter Abschied, immer leiser und leiser, in langer Stille mündend.« (Vito Žuraj).
Der zentrale Aspekt des Wanderns, der sich auf der Materialebene u. a. auch darin zeigt, dass volksmusikalische und literarische Quellen der Vergangenheit in die Gegenwart der musikalischen Moderne führen, wird durch die räumliche Konzeption der Partitur unterstrichen, wenn sich die Sängerin des Stücks zwischen verschiedenen »Klang-Inseln« bewegt. Librettist Patrick Hahn, der schon mehrfach mit Žuraj zusammengearbeitet hat, erklärt: »Das Werk sucht damit bewusst nach anderen, neuen Möglichkeiten des Konzertraums, nach anderen Hierarchien des Hörens und des Zuhörens, der Interaktion und der Begegnung zwischen Zuhörer und Interpret. Claudio Abbado hat auch für die Werke der Tradition eingefordert, was für die der Gegenwart unwidersprochen gilt: die tätige Mitwirkung des Zuhörers, wenn er sagt, ›es ist nicht weit vom Einfallsreichtum des Musikerfinders oder Musikmachers zur schöpferischen Kraft des Hörers‹.«
Mark Schulze Steinen