Was bleibt?
Der Mensch im Zentrum religiöser Musik
Carl Philipp Emanuel Bach: »Damit ich einstens nicht so bald vergeßen werde«
»Nun sag, wie hast duʼs mit der Religion?« Die berühmte Frage stellte Johann Wolfgang Goethes Gretchen 1808 im Faust nicht aus heiterem Himmel. »Man muß dran glauben«, steht für Gretchen fest – »Muß man?«, entgegnet Faust. Mehr noch als der Glaube an sich ist ihm die normative Institution Kirche verdächtig. Er vertritt eine rationalistisch aufgeklärte Geisteshaltung, die Gegebenes aus dem Blickwinkel der Vernunft kritisch hinterfragt und allem, was die Mündigkeit des Individuums einschränkt, mit Argwohn begegnet. Vor diesem Hintergrund musste das ritualisierte Anbeten einer mit rationalen Mitteln nicht nachweisbaren göttlichen Existenz zumindest fragwürdig erscheinen. So wundert es nicht, dass die institutionalisierte Religion bereits im Laufe des ausgehenden 18. Jahrhunderts und stärker noch in Folge der umfassenden Säkularisation durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 in eine ernste Krise geriet, die sich am offensichtlichsten im Schwund der Gemeindemitglieder in den Gottesdiensten manifestierte, aber auch im Rückgang neuer Kirchenkompositionen.
Carl Philipp Emanuel Bach vollzog die bürgerliche Emanzipation in seinem Lebenslauf geradezu exemplarisch: Geboren als Sohn des »Alten Bach« in den späten Ausläufern des Barock, studierte er in Leipzig und stand anschließend 30 Jahre in höfischen Diensten des Preußenkönigs. 1768 zog er – seine Berühmtheit übertraf die des Vaters mittlerweile um Längen – in der Nachfolge Georg Philipp Telemanns als städtischer Musikdirektor in die aufstrebende bürgerlich geprägte Hansestadt Hamburg. In diesem Amt hatte Bach unter anderem Musik für die fünf lutherischen Kirchen zu schreiben, wobei er sich meist – pragmatisch und dem zeitgenössischen Usus gemäß – der Pasticcio-Technik bediente, also ältere Stücke überarbeitend »recycelte« oder Anleihen bei Kollegen wie Georg Benda machte, zu dem er eine enge Freundschaft pflegte.
Das 1776 entstandene »Heilig« ist eins von nur fünf Werken mit Chor, die zu Bachs Lebzeiten im Druck erschienen sind. Seinem Verleger Breitkopf gegenüber ließ der Komponist keinen Zweifel daran, dass ihm dieses kurze, aber gehaltvolle Werk besonders am Herzen lag, denn er meinte in ihm »den meisten und kühnsten Fleiß bewiesen« zu haben und fügte hinzu, es »soll (vielleicht) in dieser Art das letzte seyn, damit ich einstens nicht so bald vergeßen werde«. Später konkretisiert er, worauf sich die erwähnte Kühnheit bezieht: »Dieses Heilig ist ein Versuch, durch ganz natürliche und gewöhnliche harmonische Fortschreitungen eine weit stärkere Aufmerksamkeit und Empfindung zu erregen, als man mit aller ängstlichen Chromatik nicht im Stande ist zu thun.«
Auffallend ist zunächst die auf eine besondere Raumwirkung ausgelegte Besetzung mit zwei gemischten Chören und zwei Orchestern. Dem doppelchörigen Abschnitt, dem der deutsche Text des »Sanctus« zugrunde liegt, stellt Bach eine einleitende Ariette für Altsolo voran, die nicht nur angesichts ihrer fehlenden liturgischen Funktion Kritik hervorrief. »Überhaupt gehört der blumenreiche und verzierte Gesang gar nicht in die Kirche«, konstatierte Johann Friedrich Reichardts Musikalisches Kunstmagazin 1787. Für die Wirkung des »Heilig« ist die Ariette jedoch von großer Bedeutung, denn sie erläutert nicht nur, dass im Folgenden ein Chor der Engel und ein Chor der Völker in einen Dialog treten ̶ es ist vor allem die Kontrastwirkung des Übergangs, die aufhorchen lässt: Der Tonartwechsel vom G-Dur der pastoral geprägten Ariette hin zum E-Dur, in dem flächig und leise, wie aus großer Ferne der Chor der Engel einsetzt, erzeugt einen geradezu ätherisch-entrückten Effekt. Wiederum ver-rückt (D-Dur), im Fortissimo und begleitet von majestätisch punktiertem Rhythmus schallt das »Heilig« aus dem Chor der Völker zurück und wird, einem Echo gleich, im zarten Piano der Engel beantwortet. Unerwartet abrupte harmonische Wechsel – das Gegenteil »ängstlicher Chromatik« – und extreme Kontraste in Dynamik und Kontur nutzt Bach dazu, nicht nur die Worte zu untermalen, sondern tatsächlich Ausdruck durch Töne zu erzeugen und – ganz im Sinne der Empfindsamkeitsästhetik – »vornehmlich das Herz zu rühren«, wie er es bereits in seinen Klavierwerken erprobt und in dem Lehrwerk Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen gefordert hatte. Dabei tritt der Textgehalt zugunsten des kompromisslosen Gefühlsausdrucks in den Hintergrund, die Musik emanzipiert sich von ihrer rein dienenden Funktion und rückt anstelle des kirchlich ritualisierten dieser Lobpreis Gottes den fühlenden Menschen ins Zentrum. Die zunächst »gefühlt« weit voneinander entfernten Chöre vereinen sich letztlich in einer Fuge im »reinen« C-Dur über dem Cantus firmus »Herr Gott, dich loben wir«. Durch die Doppelchörigkeit erschallt das Gotteslob dabei wie aus unzähligen Kehlen von allen Seiten – buchstäblich der Himmel auf Erden für die empfindsame Gemeinde.
Johannes Brahms: »Denn wir haben hie keine bleibende Statt«
Die Entstehungsgeschichte des Deutschen Requiems von Johannes Brahms ist bis heute nicht lückenlos nachvollziehbar. Das Autograf zeigt, dass der Komponist alle Sätze auf verschiedenen Papierarten und -formaten notierte – offensichtlich hatte er keinen klaren Plan im Kopf, den es schlicht umzusetzen galt. Vielmehr scheint er über Jahre hinweg an der adäquaten Form für eine Idee gearbeitet zu haben, die ihm persönlich sehr am Herzen lag, nämlich die musikalische Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Tod und Vergänglichkeit. Das Ergebnis ist ein Werk, das sich jeder liturgischen Funktionalität entzieht – weder Messe noch Kantate, noch Oratorium.
Es ist wahrscheinlich, dass der plötzliche Verlust der geliebten Mutter im Jahr 1865 als entscheidender Impuls auf den Kompositionsprozess eingewirkt hat – immerhin findet das Projekt zwei Monate später erstmalig namentlich in einem Brief an Clara Schumann Erwähnung: »Das Chorstück ist aus einer Art deutschem Requiem, mit dem ich derzeit etwas liebäugelte, in flüchtigem Klavierauszug.« Dir ursprüngliche Idee zu einem Werk nach Worten der Heiligen Schrift reicht jedoch viel weiter zurück, vermutlich bis ins Todesjahr Robert Schumanns 1856. Nicht als spontane Eingebung notierte Brahms 1860 die ersten Bibelstellen, sondern als Resultat einer jahrelangen intensiven Beschäftigung mit der Materie. Seine Lutherbibel hatte der im protestantisch geprägten Hamburg Aufgewachsene seit seinen Jugendjahren beherzt mit allerlei Anstreichungen versehen. Mit dem erwähnten Brief übersandte Brahms den (in der finalen Reihenfolge) vierten Teil; weiteren Quellen lässt sich entnehmen, dass 1865 neben diesem auch bereits der erste und zweite komponiert waren. Ein Jahr später fügte er den drei Chorsätzen den dritten und (heute) sechsten hinzu, beide mit einem Baritonsolo, sowie den zyklisch an den Kopfsatz anknüpfenden Schlusssatz »Selig sind die Toten«. In dieser sechsteiligen Form erlebte das Requiem eine erste erfolgreiche Aufführung am 10. April 1868 im Bremer Dom, erst danach komponierte Brahms das an fünfter Stelle eingefügte »Ihr habt nun Traurigkeit« mit einem zusätzlichen Sopransolo. Die heute gültige Fassung erklang erstmals im Februar des Folgejahres in Leipzig.
»Tod, wo ist dein Stachel?«
Hinsichtlich der Bibeltexte bemerkte Brahms, er habe sie als Komponist, nicht als Theologe ausgewählt. Tatsächlich konnte er sich bei der Zusammenstellung neben seiner Intuition auch auf die Verweise innerhalb seines Handexemplars verlassen, die thematisch bezugnehmende Stellen durch kleine Sternchen miteinander verbanden. Auf diese Weise sind etwa die Abschnitte des Beginns »Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden« (Matthäus 5, 4) und »Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten« (Psalm 126, 5) als verwandt ausgewiesen. Auffallend ist, dass im Gegensatz zur »ewigen Ruhe« der Toten, für die im Introitus des liturgischen Requiems gebetet wird (»Requiem aeternam«), bei Brahms das Leid und die irdischen Mühen thematisiert werden. Vom Tod ist hier noch keine Rede, stattdessen wird den Leidenden Trost in Aussicht gestellt. Erst der folgende düstere Trauermarsch, der den Tod als erbarmungslosen Gleichmacher versinnbildlicht, behandelt die Vergänglichkeit des irdischen Lebens, mahnt aber auch im kontrastierenden fließenden Dur-Abschnitt zu Geduld und Hoffnung auf die »Zukunft des Herrn«. Der allgemeine »Vanitas«-Gedanke des Trauermarschs wird anschließende durch die einzelne Stimme des Baritons individualisiert: »Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss«. Dem Klagenden steht der Chor als imaginäre Gemeinde gegenüber, die ihm in Form einer kraftvollen Fuge versichert: »Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand«. In symmetrischer Analogie zum zweiten und dritten Teil bilden auch der fünfte und sechste ein Paar, das sich mit der bedrängenden Gegenwart des irdischen Daseins auseinandersetzt. Ein Höhepunkt an emotionaler Intimität wird im Sopransolo »Ihr habt nun Traurigkeit« erreicht. Dabei ist die tröstende Mutter des Texts eine ver(über)menschlichte – im originalen Bibelkontext (Jesaja 66, 13) ist von der ihre Einwohner wie Kinder nährenden Stadt Jerusalem die Rede. Der sechste Satz »Denn wir haben hie keine bleibende Statt« thematisiert wiederum die Sterblichkeit und erinnert durch seinen gehenden Duktus zunächst an den zweiten. Es folgt die Andeutung eines »Dies irae« (»Denn es wird die Posaune schallen«) verbunden mit der Aussicht auf eine – harmonisch versinnbildlichte – Verwandlung der Toten.
An diesem Punkt offenbart sich am deutlichsten, dass Brahms mit seinem »menschlichen« Requiem einen ganz eigenen Weg eingeschlagen hat. Die angedeutete inhaltliche Symmetrie findet sich in ähnlicher Form auch im liturgischen Requiem. Im Zentrum jedoch, dort, wo nun in der Totenmesse die Sequenz mit ihren schreckenerregenden Schilderungen des Jüngsten Gerichts stehen würde, die so viele Komponisten zu dramatischen Vertonungen inspiriert haben, hat Brahms im Deutschen Requiem mit »Wie lieblich sind deine Wohnungen« die friedvolle Vision des himmlischen Elysiums angesiedelt. Der Tod ist keine Folge der Sündhaftigkeit des Menschen, sondern Teil eines natürlichen Kreislaufs (»Denn alles Fleisch, es ist wie Gras«), weder Buße noch der erlösende Christus spielen vor diesem Hintergrund eine Rolle. Brahmsʼ Requiem will die Leidtragenden trösten und die Angst vor dem Tod nehmen; es ist keine Messe, die um göttliche Gnade für die Verstorbenen bittet, sondern durch und durch ein Werk für die Lebenden.
»Denn ihre Werke folgen ihnen nach«
Nachdem Georg Wilhelm Friedrich Hegel bereits 1803 konstatiert hatte, Gott sei tot, wurde Religion, oder besser Religiosität – ein semantisch aufgeweichter Begriff, der nicht zufällig genau in dieser Zeit aufkam – zu einer im Gefühl wurzelnden Privatangelegenheit. Der aufgeklärte Mensch – und das hieß vor allem der aufgeklärte Mann, denn Glaube galt im 19. Jahrhundert in der öffentlichen Meinung als Angelegenheit von Frauen (Gretchen!) und Priestern – sollte sich nicht unmündig in die Hand Gottes begeben. Die daraus resultierende Abkoppelung des Individuums von der kirchlichen Gemeinschaft führte dazu, dass die Auseinandersetzung mit den großen Fragen des Lebens in privater Isolation stattfinden musste und dabei schnell in emotional-spirituelle Heimatlosigkeit mündete. Ersatzweise flüchtete die intellektuelle Elite in eine Gefühls- oder Kunstreligion – Erbauung und das Erleben von Transzendenz suchte man nicht mehr in der Kirche, sondern in der Natur, im Museum oder im Konzertsaal.
Brahms schuf eine religiöse Musik, deren Wurzeln im protestantischen Glauben liegen, in dem der Komponist aufgewachsen ist. Dass dem Werk, ungeachtet der außer Frage stehenden musikalischen Qualität, innerhalb eines derart religionsskeptischen Klimas ein überragender Erfolg beschieden war, dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass die behandelten Themen allgemein menschliche sind, zumal in einer radikal entsakralisierten Welt, in der das Sterben sinnentleert erscheinen musste. Am liebsten würde er, so soll Brahms einmal geäußert haben, das »Deutsch« im Titel durch den »Menschen« ersetzen – in der Tat ist es ein humanes, menschenwürdiges Requiem. Der Tod ist hier ein gezähmter, mehr noch, Brahms stellt dem Menschen sogar die Möglichkeit in Aussicht, ihn – im engsten Wortsinn eigenmächtig – zu überwinden. »Denn ihre Werke folgen ihnen nach« lauten die letzten Worte des Requiems, das dem 34-jährigen Komponisten den erhofften Durchbruch bescherte und dazu beitrug, dass er bis heute durch seine Musik in den Konzertsälen lebendig ist.
Susanne Ziese