Von Brasilien bis nach New York: Faszination Bolero
Unterhaltend, äußerst attraktiv und voller Virtuosität
Zahlreiche musikalische Genres gewinnen ihre Attraktivität aus einer inneren Vielfalt, die Widersprüchliches vereint und in der Gegensätze aufeinander prallen. Damit wird eine provozierende Lebendigkeit produziert, die immer wieder neugierig macht. In solchen Genres wird gern authentisch Volksmusikalisches und/oder im Bereich der Tanz- und der Popularmusik Angesiedeltes mit Elementen und kompositorischen Verfahren aus der artifiziellen Musik inklusive des Jazz verknüpft. Das geschieht in der europäischen Klangwelt seit dem Spätmittelalter, und es fordert bis heute auch immer wieder Inhaber gesellschaftlicher und staatlicher Macht sowie religiöse Würden- und Bedenkenträger bestenfalls zu Protesten, schlechtestenfalls zu Verboten heraus. Die sozialen und damit stets verbundenen religiösen Implikationen der Musik spielen auch in zahlreichen der heute erklingenden Stücke aus Lateinamerika eine wichtige Rolle: Sie sind zwar sämtlich »unterhaltend«, äußerst attraktiv und in ihren jazzgeprägten Arrangements voll von virtuoser Kunstfertigkeit, aber die tiefergehenden Wurzeln und ihre latente Melancholie sollten dabei immer mitgehört werden.
Gern wird der Bolero als Produkt der mittel- und südamerikanischen Musikkultur des 20. Jahrhunderts aufgefasst. Das ist einerseits korrekt, greift aber zu kurz, weil es in der Musikgeschichte zwei Typen des Bolero gab: Lange vor dem kubanischen existierte der spanische. Dieser Tanz im gemäßigten 3/4-Takt (wir kennen ihn mit seinen rhythmischen Finessen besonders in der »baskischen« Version von Maurice Ravel aus dem Jahr 1928) entstand im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Er wurde dann rasch so populär, dass auch Ludwig van Beethoven, Frédéric Chopin, Hector Berlioz und andere ihn sowohl in Bearbeitungen als auch in eigenen Kompositionen adaptierten. Etwa ab 1810 kam der Bolero nach Kuba. Die Konfrontation mit Elementen der afrokubanischen Mischkultur und der Tango-Habanera (übersetzt: Tanz aus Havanna) generierte eine grundlegende Variante: Aus dem ursprünglichen Dreiertakt wird der »gerade« 2/4-Takt, angelehnt an die europäische Contredanse. Er enthielt aber in seiner rhythmischen Binnenstruktur die typischen Latin-Asymmetrien, die auch heute noch charakteristisch für den Latin Jazz sind, so etwa die Aufteilung der acht Sechzehntel des Taktes in 3+3+2.
Heute wird auch der ebenfalls geradtaktige, eng mit dem Bolero verwandte Danzón zu hören sein. Er ist eine weitere lateinamerikanische, von entflohenen Sklaven aus der französischen Kolonie Haiti nach Kuba gebrachte afroamerikanische Adaption der Contredanse im 2/4-Takt; der wiederum wurde bei Haydn und bei Mozart Kontertanz genannt und hatte sich – musikalisch wie etymologisch – aus dem falsch gehörten schottischen Country Dance entwickelt. Dieser war als Modetanz bei der Königin Marie Antoinette sehr beliebt, und die missgünstig verhängnisvolle Weltgeschichte wollte es, dass eine Adaption ihres Lieblingstanzes ausgerechnet ein Revolutionslied war: »Ah! Ça ira, ça ira, ça ira, les aristocrates à la lanterne!«
Über Mexiko breitete sich die Bolero-Mode (die auch in der Bekleidung ihren Niederschlag fand – Torero-Jäckchen und/oder steifer Hut mit aufgeschlagener Krempe) nach Südamerika aus. Es entstanden Mischungen mit Rumba und Beguine, sogar mit Bossa Nova. Alle diese rhythmischen Modelle basieren auf binären, also geraden Teilungen von Viertel- oder Achtelnoten. Ihre Adaption in den Jazz führte seit den 1920er-Jahren zur stilistischen Unterscheidung des Typus eines Latin Jazz vom bluesgeprägten nordamerikanischen Jazz mit seinen ternären (also ungeraden) Teilungen der beats und den »swingenden« off-beats. Diese Koexistenz ist in der Regel eine friedliche, da gut ausgebildete Jazzer selbstverständlich beide Arten beherrschen. Mit der Professionalisierung und damit auch Nobilitierung des Jazz (bis hin zum Universitäts- und Hochschulfach) wurden die Latin-Adaptionen immer artifizieller; der Bolero als Popular-Tanz beziehungsweise populares Tanzlied konnte in Arrangements und besonders in Neukompositionen eine komplexe, auch kontrapunktisch vielschichtige Gestalt annehmen.
Nun zu den charakteristischen Abteilungen und Einzelstücken dieses vielfältigen Programms:
Skarpina
Überraschung: Skarpina ist ein Skorpionfisch aus dem Mittelmeer mit hochgiftigen Stacheln. Dieser sanfte Bolero mit seiner farbigen Jazz-Harmonik in der Version des Gitarristen und Komponisten Helmut Nieberle, eines aktiven Mitstreiters von Bolero Berlin, ist mindestens ebenso farbig wie der namensgebende Fisch, stellt aber keine Stacheln auf. Der Titel dürfte also nicht auf dieses vergiftete Charakteristikum verweisen, sondern darauf, dass der Gefahrenträger außerordentlich wohlschmeckend sein soll.
Three for Tango
Tango existiert in zahlreichen Darstellungsweisen, zum Beispiel ursprünglich als Tango-Habanera, dann als »klassischer« Tango Argentino und schließlich als jazzgeprägter argentinischer Tango Nuevo, kunstvoll überhöht von Astor Piazzolla. Die Jazz Waltz-Komposition von Helmut Nieberle mit ihren ternären rhythmischen Gruppen und Figurationen gewinnt ihm sehr ungewöhnliche Facetten von »swingender« Eleganz ab.
Quizás
Von diesem weltweit populären Song, als Danzón ja eng verwandt mit dem Bolero, existieren dutzende Cover-Versionen. Er wurde vom Komponisten, Osvaldo Farrés aus Kuba, mit einer charakteristisch starken Prise Melancholie versehen. Im Original und allen Arrangements ist in den Begleitfigurationen, im Rhythmus und in der Instrumentalidiomatik der Einfluss des Cha-Cha-Cha zu hören.
Lamento
Dieser sehr getragene Bolero wurde geschrieben vom philharmonischen Schlagzeuger Raphael Haeger, der zugleich Pianist der Bolero Berlin-Formation sowie Dirigent und komponierender Jazz-Kenner und –Könner ist. Hier wird die aus der Musikgeschichte tausendfach überlieferte Figur des Lamento-Basses, die meist eine chromatisch abwärts wandernde Bass-Linie als Zeichen von Leid und Trauer ausformt, in zahlreichen Varianten in den neuen Kontext gebracht, der sowohl auf Jazztypisches als auch auf Traditionsverpflichtung verweist.
September Song
Als Kurt Weill 1938 im amerikanischen Exil für das Musical Knickerbocker Holiday den September Song schrieb, ahnte er sicher nicht, dass daraus ein Evergreen und Jazzstandard werden würde, den seither unzählige Musiker immer wieder aufs Neue interpretieren. Mit dem charakteristischen punktierten Rhythmus im jeweils zweiten Takt ist eine Nähe zur Tango-Habanera gegeben, die eine Arrangement-Adaption in Richtung Bolero durchaus nahe legt.
Summertime
Gershwins berühmter Song aus der Oper Porgy and Bess ist, obwohl ein Wiegenlied, als Arie konzipiert, da die innige Verbindung von Elementen und Prinzipien der »europäischen«, sehr alten Gattung Oper mit solchen des Blues und Jazz soie der »weißen« Unterhaltungsmusik, etwa des Musicals, programmatisch war. Summertime ist, mit Brecht/Weills Moritat von Mackie Messer und Yesterday von Paul McCartney, einer der wohl meistgecoverten Songs der Musikgeschichte. Auch hier ist der ruhige gerade Takt Voraussetzung für die Verbindung mit den Charakteristika des afrokubanischen Bolero.
While My Guitar Gently Weeps
Wie schön, dass ein solches Arrangement diesen Beatles-Klassiker in die Gestalt eines Jazz Waltz verwandeln kann. George Harrison war hier – ein durchaus seltenes Ereignis – der Songwriter, etwa ein Jahr vor der Auflösung der Band 1969. Ist diese ebenfalls von Lamento-Linien durchzogene Melancholie eine vorausahnende Gewissheit?
Taboo
Diesen afrokubanischen Song schrieb die Gitarristin, Sängerin, Schauspielerin und Komponistin Margarita Lecuona 1934 in Havanna. Er ist geprägt vom Synkretismus im sogenannten Candomblé, einer vom Kolonialismus erzwungenen religiös-kulturellen Mischform, in der originär afrikanische religiöse Phänomene und die damit eng verbundenen musikalisch-sprachlich-tänzerischen Elemente auf die entsprechenden christlichen Erscheinungsformen übertragen werden. Losgelöst von diesen Wurzeln wurde der Candombe entwickelt, ein von Trommeln begleiteter Tanz, der in Montevideo und Buenos Aires bis heute zelebriert wird. Akkordik, harmonische Formeln und – in der Rhythmik – der zugrunde liegende Akzentstufentakt sind »europäisches Erbe«. Melodik, Intonation, Arrangement (hier u. a. kubanische Batá-Drums), rhythmische Patterns und Performance verweisen auf die afrikanischen Ursprünge.
Luiza
Endlich Antônio Carlos Jobim, der brasilianische »Klassiker«, der wirklich in Ipanema aufwuchs und einem dort heimischen Girl ein musikalisches Denkmal setzte, was ihn aber nicht daran hinderte, in New York eine zweite Heimat zu finden. Der brasilianische Militärputsch von 1964 trieb auch viele brasilianische Musiker ins Exil. Jobim gilt als der Begründer der jazzgeprägten Bossa Nova, in der sich Latin-Elemente etwa die Samba mit einer Grundhaltung des Cool Jazz verbinden. Viele seiner Kompositionen wurden zu Jazzstandards, die in ungezählten Varianten eingespielt wurden. Luiza allerdings ist eher ein melancholischer Slow Waltz in der Tradition des Valse triste des 19. Jahrhunderts, jedoch mit charakteristischer »cooler« Jazz-Harmonik.
Wave
Noch einmal Jobim, noch einmal Bossa Nova, jetzt aber, auch rhythmisch, »aus dem Bilderbuch«. Dieses Stück lädt ein zur Improvisation über seinen harmonischen Wechseln und gehört auch deshalb zu den beliebten Jazzstandards.
Migalhas amor
Der brasilianische Chorinho, hier in der Darstellung von Helmut Nieberle, hat nichts, wie die Bezeichnung suggerieren könnte, mit »Chor« zu tun, sondern bezeichnet (portugiesisch: Choro, die Klage, das Weinen) einen oft melancholischen Melodie-Typus, der im späten 19. Jahrhundert als Fusion mit einer Mischform entstand: »eingewanderte« europäische Popularmusik (Polka, sogar Walzer) trifft auf die bereits existierenden afro-lateinamerikanischen musikalischen Mischkulturen. Die latente Melancholie, der in der Regel auch Molltonarten entsprechen, erlaubt den Musikern aber dennoch auch gesteigerte Tempi (oft mit Samba-Rhythmik) und insbesondere eine ostentative Virtuosität.
Aglio Olio e Peperoncino
Und wieder ein wohlschmeckendes musikalisches Gericht, diesmal allerdings von Helmut Nieberle heftiger gewürzt: Dieser Chorinho kombiniert Knoblauch, Öl und Chili. Und so entsteht eine Schärfe, die aber immer noch die Grundhaltung des Chorinho verkörpert und zugleich die schöne, gepflegte Melange einer durch Melancholie gebändigten Pikanterie ergibt.
Quando meʼn vo
Giacomo Puccini – damit begeben wir uns in die Gefilde der guten alten europäische Gattung Oper: La Bohème popular. »Wenn ich fortgehe« ist eine Arie der Musetta und im heutigen Programm ein zweiter langsamer Valzer lento, aber »con grazia ed eleganza«,
Carmen
Selbstverständlich wird George Bizet alles nur Mögliche zur Verfügung stellen, um das Programm abzurunden. Die offensichtlich geplanten Überraschungen sind daher für den Verfasser dieses Textes nicht vorausschaubar; es dürfte allerdings nicht verwundern, wenn die – auch im Bewusstsein des Publikums fest verankerte – »Mutter aller Tango-Habaneras« eine zentrale Rolle spielt: Carmen und der Chor verkünden »L’amour est un oiseau rebelle«. In der deutschen Version wird das Rebellische etwas verdruckst zu »Ja die Liebe hat bunte Flügel«.
Hartmut Fladt