Die ewige Gegenwart
Das Passionsoratorium The Gospel According to the Other Mary von John Adams
Mit dem Weihnachtoratorium El Niño, das im Dezember 2000 am Pariser Théâtre du Châtelet uraufgeführt wurde, begann eine neue Phase in der künstlerischen Laufbahn des amerikanischen Komponisten John Adams. Die Botschaft von Erneuerung und Hoffnung, die hier verkündet wurde, schien ganz im Einklang mit der Aufbruchsstimmung zu stehen, die der Komponist am Beginn eines neuen Jahrtausends verspürte. Dennoch waren es überraschend düstere Untertöne, mit denen Adams den tröstlichen Charakter des Stücks zuweilen verschattete: In die musikalischen Bilder der Freude und des Wunderbaren mischte sich ein bedrohlicher, gewalttätiger Aspekt, der am Höhepunkt des Stücks, in der Episode über den Kindermord von Bethlehem, besonders deutlich wurde.
Die widersprüchlichen Empfindungen brachte Adams durch eine Überblendung verschiedener Gefühlsebenen zum Ausdruck – und genau diese Technik hat er in seinem Passionsoratorium The Gospel According to the Other Mary auf die Spitze getrieben. Mehrere Jahre lang dachten der Komponist und sein langjähriger künstlerischer Mitstreiter, der Regisseur Peter Sellars, über ein Schwesterwerk zu El Niño nach. Sie wollten, wie Sellars erklärt, die Passion Christi »in die ewige Gegenwart, in die Tradition sakraler Kunst« überführen. Gewalt und Leid, zweifellos prägende Elemente der Geschichte wie auch der Gegenwart, schildert Adams deshalb mit glühender Empathie, wobei er auf den ganzen Schatz seiner Erfahrungen als Musikdramatiker zurückgreift.
Mythische Vergangenheit und heutiges Leben
Das Textbuch, das Peter Sellars zusammengestallt hat, arbeitet mit zwei parallelen Ebenen – einer biblischen und einer modernen. Die biblische Ebene umkreist nicht allein den Leidensweg Jesu, sondern rückt auch eine Familie, deren Mitglieder er liebte und die ihn liebten, in den Blickpunkt: nämlich Maria Magdalena, ihre Schwester Martha und ihren Bruder Lazarus. Dabei lehnen Sellars und Adams die traditionelle Lesart von Maria Magdalena als einer »bekehrten Prostituierten« ab; sie betrachten diese Interpretation als haltloses Konstrukt, das man der historischen Figur Jahrhunderte nach dem eigentlichen Geschehen erst übergestülpt habe. Stattdessen zeigen sie Maria Magdalena als einen emotional komplexen Charakter, als Frau mit einer schweren Vergangenheit, die mit jähen Stimmungsumschwüngen zu kämpfen hat, aber über Kraft und Sinnlichkeit gebietet. Ihr »Anderssein« manifestiert sich nicht zuletzt in einer manisch-depressiven Disposition: Eine fast hysterische Freude kann sich bei ihr in kurzer Frist zu suizidaler Selbstverachtung wandeln, Zornesausbrüche werden von Momenten zartesten Mitgefühls abgelöst. Doch gerade diese Veranlagung weckt andererseits Marias Hunger nach Selbsterkenntnis, nach »geistiger Nahrung«, wie Jesus Christus sie ihr bieten kann.
Ihre Schwester Martha steht dazu denkbar größtem Gegensatz. Sie ist emotional ausgeglichen und zuverlässig, sie wird ganz von ihrem Eifer getrieben, »viel zu schaffen und Jesus zu dienen«. Martha ist es, die das Essen kocht, den Haushalt besorgt und alle Lasten des täglichen Lebens schultert. Aber der Schmerz, den sie verspürt, als ihr Bruder Lazarus stirbt, und den sie später abermals empfindet, als Jesus hingerichtet wird, ist keineswegs geringer als derjenige Marias.
Diese Ebene des biblischen Geschehens wird mit originalen Texten aus den verschiedenen Evangelien dokumentiert. Zugleich aber wird die »mythische Vergangenheit« mit grellen Bildern aus dem heutigen Leben verschmolzen. The Gospel According to the Other Mary beginnt deshalb mit einem Bericht über Frauen, die ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie sich für die Armen einsetzten. Später gibt Martha Jesus nicht nur zu essen, sondern hilft ihm auch, ein Haus für arbeitslose Frauen zu leiten. Im zweiten Akt wiederum stehen die Verhaftung und die Misshandlung Jesu unmittelbar neben einer Schilderung über die Inhaftierung und Vernehmung einer Gruppe streikender Frauen. Für Adams und Sellers ist dieses blitzartige Hin und Her zwischen der fernen Vergangenheit der Bibel und der »lauten, chaotischen« Gegenwart nichts Neues. In ihrer Oper The Death of Klinghoffer etwa trägt der Chor Geschichten aus dem Alten Testament und dem Koran vor, die unvermittelt gegen brutale, drastische Bilder aus den Fernsehnachrichten gesetzt werden.
Komponieren wie ein mittelalterlicher Maler
Wer bei einer Passionsvertonung vor allem an das Vorbild Johann Sebastian Bachs denkt, sollte sich vergegenwärtigen, dass sich Peter Sellars gerade mit diesen Werken intensiv beschäftigt hat und in mehreren Inszenierungen zu unkonventionellen Deutungen dieser Musik gelangt ist. Er will nicht einfach christliche Glaubenssätze reproduzieren; vielmehr, so erklärt Sellars, zeigten Bachs Passionen »Menschen, die versuchen sich klarzumachen, was mit ihnen als Gemeinschaft nach einem verheerenden Erlebnis geschehen ist«. Bachs Vertonungen der Choralverse und seine Reflexionen in den Arien, mit denen der biblische Bericht des Evangelisten durchsetzt ist, »gehen einem so furchtbar an die Substanz, weil Bach diese tausend Mal gehörten Worte radikalisiert und erfahrbar macht«.
»Gemälde von Bibelszenen, besonders solche aus dem mittelalterlichen Nordeuropa, enthalten oft Momentaufnahmen aus dem Alltagsleben«, führt John Adams aus. »Man sieht Johannes beim Taufen oder Jesus, der sein Kreuz trägt, aber in einer Ecke des Bildes arbeitet auch jemand auf dem Feld, eine Frau gebiert ein Kind, ein Hund beschnuppert einen Knochen. Diese Mischung aus dem Göttlichen und der Schäbigkeit des Lebens macht solche Menschen und ihre Geschichten realer und glaubhafter.« Gerade die mittelalterlichen Kreuzigungsdarstellungen schilderten das Geschehen besonders plastisch: »Oft versetzt der Maler die Szenerie in Städte oder Dörfer, die er offenkundig seiner Umwelt, seinem eigenen Milieu nachempfunden hat.« Während der Arbeit an dem Pasionsoratorium, räumt John Adams ein, habe er »eine leise Ahnung davon bekommen, wie es sich angefühlt haben mag, ein mittelalterlicher Künstler zu sein – egal, ob man einen Holzschnitt anfertigte, eine Steinskulptur, ein Gemälde oder die Illumination eines Buchs – um buchstäblich jedes noch so kleine Detail zu illuminieren«. Diese Technik hat Adams in seiner Musik adaptiert. Als Beispiel hierfür nennt er die Schlussszene aus The Other Mary, in der Maria, nachdem sie in das leere Grab geschaut hat, hinter sich einen Mann bemerkt und annimmt, es sei einer der Gärtner; erst als er ein einziges Wort zu ihr sagt – »Maria« –, erkennt sie, dass es sich um den eben auferstandenen Jesus handelt.
Ein literarischer Chor vieler Stimmen
The Other Mary pulsiert von der Energie der Quellen, aus denen sich das Stück speist, denn Sellars verarbeitet in seinem unorthodoxen Libretto einen ganzen Chor anderer Stimmen, vor allem weiblicher Stimmen. Da wäre etwa die Autobiografie von Dorothy Day (1897 – 1980), einer Anführerin der katholischen Arbeiterbewegung, die ganz im Geiste der christlichen Botschaft für soziale Gerechtigkeit kämpfte. Days Erinnerungen prägen den Beginn beider Akte von The Other Mary, wobei Sellars die biblischen Figuren Maria und Martha in die »ewige Gegenwart« transferiert und sie zu Mitstreiterinnen der Aktivistin werden lässt: Erst betreiben sie ein Asyl für Gestrauchelte, später engagieren sie sich bei Landarbeiterprotesten. Und wenn ihr Bruder Lazarus stirbt, tönt die explosive Lyrik der afro-amerikanischen Dichterin und Essayistin June Jordan (1936 – 2002) wie ein schmerzlicher Nachhall durch die Gedanken der beiden Frauen.
Ein kurzes, aber höchst intensives Gedicht der Romanautorin und Lyrikerin Louise Erdrich (geb. 1954) spricht von Marias komplexer Liebe zu Jesus. »Für Maria sind das Erotische und das Spirituelle untrennbar miteinander verwoben«, glaubt Adams. »Erdrichs Darstellung der Maria, wie sie Jesus die Füsse wäscht, ist eine erstaunliche Mischung aus demütiger Unterwerfung und Verlangen, aber sie drückt auch die Verletzung und Wut einer Frau aus, die man missbraucht und misshandelt hat.«
Ein weiteres Gedicht von Erdrich, Der Christus von Orozco (»Der die Nähte seines Fleisches zerreißt«) eröffnet den zweiten Akt mit einem Chor voll glühender Inbrunst. Das Gedicht, inspiriert von einem erschreckenden Bild des mexikanischen Wandmalers José Clemente Orozco (1883 – 1949) – gezeigt wird Christus, wie er wütend mit einer Axt sein Kreuz fällt –, führt einen aggressiven, militanten Jesus vor, der in krassem Gegensatz zum stillen, mitfühlenden Christus anderer Szenen steht.
Spanische Texte der mexikanischen Dichterin Rosario Castellanos (1925 – 1974) und lateinische Verse der Mystikerin Hildegard von Bingen aus dem 12. Jahrhundert (beide sind auch im Libretto von El Niño vertreten) bieten weitere Zeugnisse weiblicher Spiritualität. Zu den übrigen Quellen gehören ein Gedicht des frühen Modernisten Rubén Dario (1867 – 1916) und das Poem Passah des italienischen Schriftstellers Primo Levi (1919 – 1987), dessen Worte der Vergebung, der Begeisterung und der Hoffnung Adams dem dankbaren Lazarus am Ende des ersten Akts in den Mund legt.
Der Transfer zur Gegenwart
Die Erzählstruktur von The Other Mary entfernt sich in vielerlei Hinsicht von der traditionellen Passionsgeschichte, auch weil der eigentliche Bibelbericht erweitert wird. Das gilt vor allem für den ersten Akt, der sich um Krankheit, Tod und Auferstehung des Lazarus dreht. Sellars stellt sich diese Ereignisse als »Probe« vor, die Jesus in Hinblick auf seine eigene Wiederkehr von den Toten anberaumt hat. Die Gefangennahme Jesu (mit der beispielsweise Bachs Johannes-Passion beginnt) findet dagegen erst zu Anfang des zweiten Akts statt, in dessen Mittelpunkt die Kreuzigungsszene steht. Und während eine Passion üblicherweise mit der Grablegung Jesu endet, geht The Other Mary darüber hinaus und schließt mit der Auferstehung.
Im Gegensatz zu Bachs Passionen, in denen meditative Choräle und Arien die Funktion von reflexiven Ruhepunkten einnehmen und das Geschehen auslegen, erfolgt in The Other Mary auch die Ausdeutung, also der erläuternde Transfer zur Gegenwart, durch eine dramatisierte Handlung. Aspekte der Passion und der damit verbundenen Gewalt werden in Begriffe überführt, wie sie uns aus unserer eigenen Zeit vertraut sind. Während des eigentlichen Kompositionsprozesses, so erinnert sich Adams, ereigneten sich in der Welt etliche moderne Leidensgeschichten. Ausdrücklich hebt er dabei die Gewalt gegen Frauen in der ganzen Welt hervor, etwa die brutalen Einschüchterungsversuche gegenüber Teilnehmerinnen der Aufstände im Arabischen Frühling, aber auch die »verbale Verunglimpfung« von Frauen durch Demagogen in amerikanischen Talkshows.
Eine weitere Besonderheit des Werks ist die indirekte Darstellung Jesu: Niemals erscheint er in personifizierter Gestalt; seine Worte werden abwechselnd von einem Countertenor-Trio und vom Chor vorgetragen und mitunter auch auf Maria, Martha und Lazarus verteilt. The Other Mary entzieht sich ohnehin einer Zuordnung zu konventionellen Gattungen. Es ist ein Passionsoratorium, das, wie El Niño, wahlweise inszeniert oder konzertant aufgeführt werden kann. Adams stellt fest, die Struktur, die Sellars und er entwickelt hätten, mache ihn von den Beschränkungen der Opernbühne unabhängig; gleichzeitig sei hier all sein musikdramatisches Können gefordert. »Händels dramatischste Musik findet sich nicht in seinen Opern, sondern in seinen Oratorien«, ist Sellars überzeugt, »ähnlich, wie die Missa solemnis Beethovens eigentlich Oper ist.«
Musik, die psychologische Kunst
Zahlreiche Aspekte von El Niño kehren in Libretto und Partitur von The Other Mary wieder – mag es auch unbeabsichtigt oder intuitiv geschehen sein. Der Gebrauch eines Countertenor-Trios indes stellt eine bewusste Verbindung zwischen den beiden Oratorien her, aber diesmal verschattet Adams die ehemals engelsgleichen Harmonien der Sänger mit dunkleren, herben Klängen. In der Golgatha-Szene werden Hörer, die El Niño kennen, die vom Trio wiederholten Worte Jesu »Mother, behold thy son!« (Mutter, siehe hier deinen Sohn) als berührendes Echo der überschwänglich frohen Zeile »the baby leapt in her womb« (das Kind hüpfte in ihrem Leibe) identifizieren, mit der die schwangere Maria charakterisiert wurde.
Das Orchester wird selbst zum Akteur oder eher zum allwissenden Erzähler, besonders dort, wo der Tod und die Auferstehung des Lazarus, die Schrecken und das Leiden der Golgatha-Szene mit der hämischen Menge und der herabsinkenden Finsternis dargestellt werden oder auch das »ausgehungerte Grollen« des wiedererwachten Frühlings, das einen strahlenden Übergang zur Schlussszene bildet. Als Maria, wie von einem Blitz durchzuckt, plötzlich die wahre Identität des vermeintlichen Gärtners erkennt, der ihren Namen ruft, begreifen auch wir durch Adams’ Musik ihre spirituelle Transformation. »Von allen Künsten«, weiß John Adams, »ist die Musik psychologisch bei weitem die präziseste. Durch feinste harmonische Tönungen oder Melodiewendungen lässt sich beeinflussen, wie ein Hörer eine bestimmte Person oder ein Ereignis auffasst. Da Musik zuallererst eine Gefühlskunst ist, kommt dem Komponisten die Aufgabe zu, einer Figur oder einer Szene emotionale und psychologische Tiefe zu geben. Keine andere Kunst stellt dafür ein auch nur annähernd so wirksames Rüstzeug bereit.«
Thomas May
Übersetzung: Stefan Lerche
Der Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaftler Thomas May ist freiberuflicher Autor, Kritiker, Lehrer und Übersetzer; er schreibt regelmäßig für die renommiertesten amerikanischen Opern- und Konzerthäuser sowie für die Juilliard School in New York und das Festival in Aspen. Außerdem ist er als Kritiker u. a. für die Fachzeitschrift Musical America tätig. Das Augenmerk Thomas Mays gilt neben dem klassischen Repertoire besonders dem Schaffen zeitgenössischer Komponisten; so publizierte er sowohl das viel beachtete Buch Decoding Wagner als auch das weit über die USA hinaus erfolgreiche Komponisten-Kompendium The John Adams Reader.