Im Bann des Jüngsten Tages
Giuseppe Verdis Requiem – nationales Denkmal und Epochenwerk
Im November 1871 schreibt Giuseppe Verdi an eine enge Freundin: »Es ist doch sonderbar! Ich, der früher doch ausgesprochen schüchtern war, bin es jetzt nicht mehr: Aber vor Manzoni fühle ich mich so klein (und beachten Sie wohl, ich bin sonst hochfahrend wie Luzifer), dass ich kaum ein Wort über die Lippen bringe.«
Wohl keinem anderen Zeitgenossen brachte Verdi solch ungeteilte Hochachtung entgegen wie dem zweieinhalb Jahrzehnte älteren Schriftsteller Alessandro Manzoni. Bereits als junger Mann hatte er dessen Hauptwerk I promessi sposi (Die Brautleute) begeistert gelesen. Zeitlebens betrachtete er diesen historischen Roman als sein Lieblingsbuch und spielte in den 1840er-Jahren sogar mit dem Gedanken, ihn zur Grundlage einer Oper zu machen. Doch nicht nur dem literarischen Werk Manzonis galt Verdis Bewunderung. Auch die Person des Schriftstellers verehrte er als herausragenden Menschen und überzeugten Patrioten. So ist es nicht erstaunlich, dass die Nachricht von Manzonis Tod Verdi erschütterte. Am 23. Mai 1873 schreibt er an seinen Verleger Giulio Ricordi: »Ich bin tief betroffen vom Tod unseres Großen! Aber ich komme morgen nicht nach Mailand, weil ich es nicht übers Herz brächte, an seinem Begräbnis teilzunehmen. Ich werde bald sein Grab besuchen, allein und ohne gesehen zu werden. Und vielleicht werde ich nach weiterem Nachdenken und nachdem ich meine Kräfte eingeschätzt habe, etwas vorschlagen, um sein Andenken zu ehren.« Bereits wenige Tage später erklärte der Komponist dem Bürgermeister von Mailand, was ihm vorschwebte: Ein Requiem für Alessandro Manzoni, das anlässlich des ersten Todestages des gläubigen Katholiken in einer Mailänder Kirche uraufgeführt werden solle.
Auf dem Weg zum Requiem
Verdis rascher Entschluss ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass er nicht mit leeren Händen dastand. Denn im November 1868 hatte er nach dem Tod eines anderen »großen Italieners« eine kollektive Requiem-Komposition angeregt. »Um das Andenken Rossinis zu ehren, möchte ich, dass die angesehensten italienischen Komponisten eine Totenmesse komponieren, die am Jahrestag seines Todes aufzuführen wäre.« Zwölf Kollegen folgten diesem öffentlichen Aufruf und den ungewöhnlichen Bedingungen, die im selben Schreiben aufgestellt wurden. Ohne Honorar leisteten sie einen Beitrag zu einem Werk, das einzig und allein dem Gedenken dienen sollte. So forderte Verdi, dass die Partitur im Anschluss an die Aufführung in Bologna »versiegelt im Archiv des Konservatoriums dieser Stadt hinterlegt werden« müsse, um sie auf diese Weise allen kommerziellen Interessen und Zwängen zu entziehen. Doch obwohl alle Teile der Totenmesse rechtzeitig vorlagen, scheiterte das Unterfangen am Zwist der lokalen Behörden und Verdis strikten Vorgaben (auch die Veranstalter und Mitwirkenden sollten auf Einnahmen und Honorare verzichten). Für über ein Jahrhundert verschwand die Messa per Rossini in der Schublade; erst 1988 erklang sie – in Stuttgart – zum ersten Mal.
Schon im Vorfeld der gescheiterten Aufführung der Messa per Rossini, zu der er das abschließende »Libera me« beigesteuert hatte, wurde Verdi von gemischten Gefühlen umgetrieben. Bereits in seinem Aufruf hatte er darauf hingewiesen, dass es der Gemeinschaftskomposition »(so gut die einzelnen Stücke auch sein mögen) notwendigerweise an musikalischer Einheit fehlen« werde. Und einige Wochen nach dem geplanten Premierentermin schreibt er an Ricordi: »Kann die neue Messe mit jenen von Mozart, Cherubini etc. konkurrieren … mit dem Stabat [mater von Rossini], mit seiner Petite Messe? Ja? Dann führen Sie sie auf. Nein? Dann Pax vobis […].«
Ein musikalisches Denkmal
Auf der Basis dieser Erfahrungen und des bereits komponierten »Libera me« machte sich Verdi vier Jahre später an die Komposition seines Manzoni-Requiems. Wie schon im Fall der Messa per Rossini ging es darum, einen großen Künstler und eine kulturelle Leitfigur Italiens zu ehren. Das Konzept, das Verdi seinem neuen Werk zugrunde legte, war allerdings ein anderes. Nicht mehr als Primus inter Pares, sondern als alleiniger Schöpfer wollte er Manzoni ein klingendes Denkmal setzen, das seinen hohen künstlerischen Ansprüchen gerecht werden und als Requiem-Komposition über den Entstehungsanlass hinaus »Epoche machen« könne. Zugrunde liegt diesem Bestreben eine Idee, die die jahrhundertalte Tradition der musikalischen Epitaphe spätestens seit der Renaissance prägte: die Vorstellung, dass der Komponist, der einen verstorbenen Künstler mit einer Gedenkkomposition ehrt, sich nicht nur in dessen Tradition einreiht, sondern auch darauf bedacht ist, sich dem Widmungsträger als ebenbürtig zu erweisen.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Verdi diesmal nichts dem Zufall überließ. Noch vor Abschluss der kompositorischen Arbeit reiste er mehrfach von seinem Landsitz SantʼAgata ins rund 100 Kilometer entfernte Mailand, um eine Kirche mit bestmöglicher Akustik zu finden. Nach mehrwöchiger intensiver Probenarbeit erlebte die Messa da requiem per l’anniversario della morte di Alessandro Manzoni – so der Originaltitel der Totenmesse – am 22. Mai 1874 in der Kirche San Marco ihre erfolgreiche Uraufführung. Die Form der Darbietung, die aus heutiger Sicht etwas bizarr anmutet, war das Ergebnis mühsamer Verhandlungen mit den kirchlichen Autoritäten. Während der kirchenferne Komponist das rund eineinhalbstündige Werk dirigierte, zelebrierte der Gemeindepriester eine stumme Messe. Und die Choristinnen – fast alle »jung und schön« wie ein Kritiker bemerkte – waren nur unter der Auflage zugelassen worden, dass sie ihre Silhouette mit einem geschlossenen schwarzen Kleid und ihren Kopf mit einem großen Trauerschleier verhüllten.
Doch Verdi beließ es nicht bei dieser einen Aufführung. Wenige Tage später dirigierte er das Requiem in der Mailänder Scala, Anfang Juni dann in Paris. 1875 folgte eine sorgfältig vorbereitete Tournee nach Paris, London und Wien. Dass der Komponist sein neues Werk persönlich im Ausland vorstellte, war zum einen dem Verlangen nach künstlerischer Kontrolle geschuldet. Zum anderen dem Wunsch, sich in den wichtigsten europäischen Musikzentren als Botschafter der italienischen Musik zu präsentieren, der auch jenseits der Opernbühne etwas zu sagen habe. Zur Freude des Komponisten reagierte gerade das deutschsprachige Publikum begeistert. Allein im Jahr 1876 wurde das Manzoni-Requiem in 17 deutschsprachigen Städten gespielt – darunter auch an der Berliner Hofoper. Im Rahmen eines Festkonzerts beim Niederrheinischen Musikfest feierte man den eigens angereisten Komponisten im Mai 1877 dann im Kölner Gürzenich. Beeindruckt war das Publikum dabei nicht nur von der Musik, sondern auch von Verdis Dirigat. So heißt es in einer Rezension: »Verdi tactiert nicht nur, er dirigiert im vollsten Sinne des Wortes, er spiegelt die musicalischen Gedanken in seinen Mienen, in seiner Haltung, in der Bewegung seines Tactstocks wieder.«
»Was lebt schon?«
In Verdis Schaffen nimmt die Beschäftigung mit dem Tod eine zentrale Stellung ein. »Man sagt, diese Oper sei zu traurig und es gäbe zu viele Tote darin«, schreibt er nach der Uraufführung von Il trovatore einer Freundin: »Aber schließlich ist im Leben doch alles Tod? Was lebt schon? …« Von der ersten erhaltenen Oper Oberto bis zu Otello (und tatsächlich sogar bis zum Falstaff) durchzieht die Todesthematik in unterschiedlichen Facetten seine Bühnenwerke. Die existentielle Dimension des Todes hatte Verdi bereits als junger Mann erfahren müssen. Innerhalb von zwei Jahren verlor der noch nicht 30-Jährige seine beiden Kinder und seine erste Frau.
Die Form der christlichen Totenmesse bot Verdi die Möglichkeit, sich dem Thema Tod nach dem Rückzug von der Opernbühne aus einer anderen Perspektive anzunähern. (Dass auf Aida nach mehr als zehnjähriger Pause noch Otello und Falstaff folgen sollten, war zum damaligen Zeitpunkt weder dem Komponisten noch dem Publikum klar.) Als dramatisch denkender Künstler war er von der Vielfalt der Todesbilder fasziniert, die der Text der katholischen Liturgie bot. Besonders angezogen wurde seine schöpferische Fantasie offensichtlich von der apokalyptischen Schreckensvision des »Dies irae«. Die im Mittelalter entstandene strophische Sequenz schildet in grellen Farben das Grauen und den Schrecken des Jüngsten Gerichts: die Auferstehung der Toten, die Furcht vor Bestrafung, Verdammnis und ewigem Tod und das Flehen um Vergebung und Errettung. Nochmals aufgegriffen wird diese Endzeitvision im Text des abschließenden »Libera me«. Diese beiden Abschnitte bilden die tragenden Pfeiler von Verdis Requiem.
Kontrastdramaturgie
Die dramatische Kraft des an zweiter Stelle stehenden »Dies irae« beruht in wesentlichem Maße auf seinen eindrucksvollen musikalischen Bildern, Verdis Kontrastdramaturgie und dem klugen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. So kann man sich der unvermittelt hereinbrechenden Klanggewalt des Beginns mit den ohrenbetäubenden Forteschlägen des gesamten Orchesters, das hier erstmals zum Einsatz kommt, und den harten Gegenakzenten der Großen Trommel kaum entziehen. (»Man wirft mir vor, dass ich den Lärm sehr liebe …«, hatte Verdi bereits 1845 in einem Brief ironisch formuliert.) Verkündet wird das kollektive Entsetzen vom Chor, zunächst in schreiendem Fortissimo, etwas später aber auch im Pianissimo düster flüsternd oder sotto voce (mit halber Stimme) stammelnd. Ab der siebten Strophe, in der der Text von der dritten in die erste Person wechselt, stehen die Solosänger im Vordergrund. In unterschiedlichen Konstellationen sprechen sie von der Angst des Individuums vor göttlicher Strafe und dem Wunsch nach Errettung, um sich im abschließenden »Lacrimosa« schließlich als Quartett mit dem Chor zu verbinden. Dabei wechselt die Musik auf der Ebene des Klangs und des Ausdrucks häufig zwischen größtmöglichen Gegensätzen: Auf ohrenbetäubenden Lärm folgt absolute Stille, auf Aggression und Schrecken sanftes und inständiges Bitten, auf das Spiel mit räumlicher Nähe und Masse, Entfernung und Verlorenheit.
Dass Verdi diese Gegensätze in seiner eigenen Interpretation besonders herausarbeitete, bezeugt die bereits zitierte Kritik der Kölner Aufführung des Requiems im Mai 1877: »Verdi wählte zuvörderst die Nuancen viel schärfer, greller als in Deutschland üblich. Darin können wir etwas von den Italienern lernen, denn die Wirkung der Musik beruht doch zu einem sehr wesentlichen Theile vollständig auf einem sinnlichen Fundament.«
Licht und Schatten
Doch nicht nur von Verdis wirkungsvollem Umgang mit scharfen Kontrasten zeugt das Requiem, sondern auch von seinem kunstvollen Spiel mit Licht und Schatten. Bereits der ungewöhnliche Werkanfang liefert ein eindrucksvolles Beispiel hierfür. In Düsternis und gedämpftem Klang beginnt die Totenmesse mit der von Pausen durchsetzten Bitte um ewige Ruhe für die Verstorbenen. Doch nach 16 Takten ereignet sich überraschend eine Aufhellung. Nach einem Crescendo in den Streichern wechselt die Musik vom dunklen a-Moll ins lichte A-Dur und lässt so das ewige Licht, das der Chor für die Toten erbittet (»et lux perpetua / luceat eis«), auch musikalisch aufscheinen. Einen wesentlichen Beitrag zur magischen Wirkung dieses Effekts leistet die subtile dynamische Gestaltung des Übergangs. Denn im Moment des unerwarteten Wechsels nach A-Dur lässt Verdi das Crescendo abbrechen und die Streicher plötzlich im dreifachen Piano dolcissimo spielen.
Eine vergleichbare, allerdings entgegengesetzte Wirkung, erzielt der Komponist am enigmatischen Werkende. Auf einen gewaltigen Höhepunkt, bei dem sich der Solosopran in einer weit gespannten Phrase zum zweiten Mal im gesamten Werk bis zum hohen C aufschwingt, um der Bitte nach Befreiung nochmals dramatisch Nachdruck zu verleihen (»Libera me«), folgt ein rapider Spannungsabbau. Die Musik scheint im düsteren c-Moll zu verklingen und findet erst im letzten Moment den Weg nach C-Dur. Doch der Aufhellungseffekt und die Befreiung, den dieser finale Wechsel des Tongeschlechts versprechen könnte, bleiben aus. In tiefster Lage intoniert das Orchester im dreifachen Pianissimo einen C-Dur-Akkord. Über diesem abgedunkelten Klang deklamiert der Solosopran ein letztes Mal die beiden Anfangsverse des »Libera me«, um dann gemeinsam mit dem Chor in zwei geflüsterten »Libera me«-Rufen zu verklingen. Mit »dem letzten Glimmen einer Lampe, die unter den Bögen einer Kathedrale verlöscht«, hat ein zeitgenössischer Rezensent diesen rätselhaften Schluss verglichen. Ob die Bitte nach Befreiung erhört wird, ja überhaupt erhört werden kann, lässt die Musik offen.
Tobias Bleek