Moderne? – Modern!
Berta Zuckerkandl plädiert für »neue Ohren«
Sie telefonierte leidenschaftlich gern – und viel. Sie telefonierte mit Künstlerinnen, Journalisten und Gelehrten, mit Politikern, Intendanten, Komponisten, Wissenschaftlern, Literaten und Schauspielerinnen, mit Vertrauten in der Ferne wie mit Freundinnen und Familienmitgliedern im nächsten Wiener Stadtbezirk, sie telefonierte mit Nachbarn und mit halb Europa. Ihr Telefonbuch liest sich wie das Who’s who der Moderne ihrer Zeit. Dieses Telefonbuch war so sehr ihr eigen, dass sie es – sinnloserweise – mitnahm, als sie vor den Nationalsozialisten fliehen musste: »Wenn man die Flucht ergreift«, schrieb Berta Zuckerkandl in ihren Memoiren, »vergißt man ja meist die notwendigen Dinge und nimmt die überflüssigsten mit; so erging es auch mir. Beim Abschied von Wien ließ ich Wertvolles zurück. Als ich aber in Paris die wenigen mitgeführten Manuskripte und Bücher auspackte, fiel mir als erstes mein Wiener Telefonbüchel in die Hand. Wer hatte die stupide Idee gehabt, dieses nun toteste aller Bücher einzupacken?« Wenn auch die Telefonnummern des »Büchels« keinen Wert mehr hatten – das unnütz gewordene Buch war mehr als die Summe seiner Einträge. Es war ein Symbol, ähnlich wie das Telefon selbst, jene alltägliche Apparatur, die ein Sinnbild für Berta Zuckerkandl zu sein scheint, steht es doch für die beiden großen Themenfelder, die die Wiener Journalistin und Salonière ausmachten: Kommunikation und Moderne.
Ein offener Begegnungsraum: Berta Zuckerkandls Salon
Berta Zuckerkandl war durch und durch modern: als Journalistin, die sich rückhaltlos für moderne Kunst einsetzte, als berufstätige Frau, die emanzipiert agierte, als politisch denkender (und aktiv handelnder) Mensch, der wider allen Zeitgeist pazifistisch engagiert war, als Übersetzerin, die von der europäischen Idee überzeugt war, und nicht zuletzt als Salonière , die den Salon als moderne Institution weiterführte – als offenen Begegnungsraum über alle Konfessionen, Professionen, Parteien, Nationalitäten und andere Grenz(ziehung)en hinweg. Zu der Idee der Moderne gehörte für Berta Zuckerkandl aber ebenso die Gleichzeitigkeit des scheinbar Unvereinbaren: Johann Strauß und Gustav Klimt, Tradition und Avantgarde, Tanz und Diskurs, Popularität und Intellektualität, Geschichtsbewusstsein, Tagespolitik und der visionäre Blick in die Zukunft. Sie fasste all dies nicht als Gegensätze in antagonistischem Sinne auf, sondern als produktiven Zustand, als Nährboden des Fortschritts, der Moderne. Diese Idee machte sich Berta Zuckerkandl in ihrem Handeln als Journalistin und Übersetzerin, Salonière und Kommunikatorin, Vermittlerin und Geheimdiplomatin zu eigen. War es ihre journalistische Neugierde, die sie immer nach dem Neuen suchen ließ? Oder ihr Geschichtsbewusstsein? Oder ihre Menschenkenntnis, die in den Akteuren der Moderne das Potenzial erkannte?
Eindrucksvolles Vorbild: das Elternhaus
Von ihrer Herkunft her war Berta Zuckerkandl weltoffen geprägt und mit einer professionellen Neugier geimpft. Sie stammte aus der Familie des Wiener Journalisten und Zeitungsverlegers Moritz Szeps. Ihr Vater hatte, so Zuckerkandl, das Neue Wiener Tagblatt »mit einem lächerlich kleinen Kapital, aber mit dem unerschöpflichen Fond von Jugend, Glauben, Enthusiasmus« gegründet: »Unser Kinderzimmer stieß tatsächlich an das Redaktionszimmer an, […] heute noch, wenn ich Druckerschwärze rieche, ist mir das so heimisch wie dem Bauern Stallgeruch.« Moritz und Amalia Szeps erzogen ihre Kinder, wie in den Familien assimilierter Juden in Wien üblich, mit Leidenschaft für Wissenschaft, Kultur und Geschichte, dazu mit einem seismografischen Gespür für die Gegenwart. Auch die Mädchen der Familie wurden selbstverständlich unterrichtet – selbstverständlich in modernem Sinne, denn das Schulsystem des ausgehenden 19. Jahrhunderts sah weder eine allgemeine Schulpflicht vor, noch eine Bildung für Mädchen, die über Katechismus und Hausarbeitslehre weit hinausging. Anders im Hause Szeps: »Frei von jedem Schulzwang, wünschte mein Vater uns eine Art Hochschulerziehung im eigenen Heim zu geben. So ließ er einen Chemiker, einen Physiker von Ruf, Kurse bei uns lesen. Und so kam auch Albert Ilg dreimal wöchentlich in unser Haus. Seine Vorträge umfaßten stets den ganzen Komplex der Kulturgeschichte.«
Dass Berta, die 1864 geboren wurde, wie auch ihre ältere Schwester Sophie, die später Paul Clemenceau (den Bruder von Georges Clemenceau) heiratete, was die Szeps-Schwestern zu Schlüsselfiguren der österreichisch-französischen Geheimdiplomatie zwischen den Weltkriegen werden ließ, hier eine umfassende Bildung genoss, ist unverkennbar. Und da Berta den Vater früh in die Redaktionsräume begleitete, ihn unterstützte und bald auch vertrat, war der Beruf als Journalistin fast folgerichtig, zumal sie im Elternhaus die Vernetzung von Geselligkeit, Kultur, Politik und Wissenschaft von Kindesbeinen an kennengelernt hatte: Die Mutter, Amalia Szeps, unterhielt bereits einen beliebten wie belebten Salon in Wien, über den die Tochter Berta im Rückblick schrieb: »Als Frau des einflußreichen politischen Publizisten Moritz Szeps war sie Mittelpunkt eines der belebtesten Wiener Salons gewesen. Die Gemütlichkeit, die sie im gab, lockte Staatsmänner, Parlamentarier und Finanzgrößen ebenso an wie Dichter, Schauspieler, Aristokraten, Weltdamen und einfache Frauen. Hier war kein Raum für Snobismus und Arroganz.« Ein offenbar eindrucksvolles Vorbild für ihren eigenen Salon, den Berta Szeps nach ihrer Heirat mit dem Wiener Chirurgen Emil Zuckerkandl selbst führte. Dabei übernahm sie auch die Einstellung ihres Vaters zur Kunst: »Mein Vater hat viele Künstler gefördert und viele erkannt, ehe ihnen Gerechtigkeit wurde. Moritz Szeps war den Revolutionen in der Kunst und jeder neuen Bewegung aufmunternd gesinnt.«
Wie der Vater Szeps Richard Wagner als »Zukunftsmusiker« gefördert hatte, förderte die Tochter zahlreiche Künstler, die als »Avantgardisten« oder »Modernisten« einen schweren Stand hatten, gesellschaftlich, aber durchaus auch ganz handfest: finanziell. Denn die Moderne war – so sehr wir heute gewohnt sind, sie mit dem Wien der Jahrhundertwende in Eins zu denken – um 1900 keineswegs omnipräsent: »Namen wie Mahler, Schreker, Zemlinsky, Schönberg, Berg, Webern, Hauer oder auch die (gleichfalls […] in Wien zu hörenden) Debussy, Strawinsky, Reger stehen heute für den zögernden oder radikalen, unauffälligen oder inszenierten Bruch mit der Vergangenheit, der den Namen Moderne trägt. […] Der lebensweltlichen Erfahrung einer ganz normalen Konzert- und Opernbesucherin blieben sie marginal und fremd. Schon damals ließen sich die Konzerte mit zeitgenössischer Musik problemlos vermeiden, so selten waren sie.« (Wolfgang Fuhrmann)
Wiener Skandale – das Terrain der Salonière
Die »Revolutionen in der Kunst« haben Berta Zuckerkandl zeitlebens fasziniert, vor allem, weil sie in ihrem Salon, in den ungezählten Briefen und Telefonaten mit den Protagonistinnen und Protagonisten der Kunst miterlebte, welches Spannungsgefüge notwendig war, um Kunst zu schaffen und um Kunst auszuhalten. Die an (künstlerischen wie politischen) Skandalen so reiche Zeit in Wien der Jahrhundertwende war das Terrain der Salonière Zuckerkandl – auch und gerade in dieser doppelten Dimension von Kunst und Politik. Nichts war für sie rein künstlerisch (ohne Politik) und vice versa nichts rein politisch (ohne Kunst). Hinzu kam, dass sie als leidenschaftliche Vertreterin des Fortschritts von der Bedeutung moderner Wissenschaften zutiefst überzeugt war. Ihr Salon war daher auch der Ort der Kommunikation zwischen diesen für sie untrennbaren Feldern. Und sie war es, die ihr diplomatisches Ohr auf beiden Seiten der Skandale hatte: bei den Befürwortern und Initiatoren der Skandale wie auch bei den vehementen Kritikern. Ihr gelang dabei, was Wenigen gelang, die Kunst und ihre Skandale als das wahrzunehmen, was sie sind: Seismografen ihrer Zeit.
Zuckerkandl hatte dabei immer wieder ihr Ohr bei den Nöten und Freuden der Künstler, und wusste zugleich darum, dass sich eine Gesellschaft, die auf Vielfalt und Gegensätzen fußt, nicht immer gern den Spiegel ihrer Heterogenität vorhalten lässt, was Unversöhnliches und Kompromisslosigkeit, Unverständnis und Ablehnung als allbekannte Reaktionen auf die Moderne hervorbrachte. Berta Zuckerkandl war hier Zuhörerin und Mittlerin, Diplomatin der Kunst wie der Künstler. So etwa in der »Klimt-Affäre« um die Fakultätsbilder, die zwischen 1900 und 1905 gärte. Die Journalistin Zuckerkandl, mit Klimt eng befreundet, konnte mit einem Zeitungsartikel den gordischen Knoten durchschlagen und kommentierte ihren Erfolg in einem Brief an die Schwester Sophie mit Scharfblick für das Image, das sich Klimt durch diese Affäre hatte zulegen können: »Klimt hat sein ganzes Vermögen geopfert, zumal er [wegen der Fakultätsbilder] zwei Jahre lang alle Privataufträge zurückgestellt hatte, und ist nun bettelarm. Aber er schüttelt sorglos sein schönes Apostelhaupt, nimmt die Palette zur Hand und tritt vor seine Staffelei, denn er ist einer jener Künstler, der zum Helden wird, wenn es gilt, sein Reich zu schützen.«
Auch für Alma Mahler war Berta Zuckerkandl eine wichtige Gesprächspartnerin. Die beiden Frauen standen sich nahe, auch wenn sie »grundverschieden geartet« waren, wie Zuckerkandl schrieb. »Die Gegensätze unserer Naturen hätten eigentlich trennend wirken müssen, aber sie wurden zum unlöslichen Band einer Freundschaft, die auf Freiheit beruht. Auf Freiheit von Vorurteilen, von gesellschaftlichen Vorschriften und heuchlerischem Scheinleben.« In Zuckerkandls Salon hatte die junge Alma Schindler den Hofoperndirektor Mahler kennengelernt, wenige Jahre später war sie die kunst- und eigensinnige Gefährtin, auch in den schwierigen Phasen seiner Wiener Zeit: Die Presse wandte sich gegen den Hofoperndirektor wie gegen den Komponisten Mahler, selbst im Orchester rumorte es, und die Intrigen, mal antimodern, mal antisemitisch motiviert, rissen nicht ab. Alma Mahler versuchte »ausgleichend zu wirken. Ich muß Gustav schützen und dafür oft die kleinen Launen eines großen Genies ertragen«, so Zuckerkandl in ihren Erinnerungen an ein Gespräch mit der Freundin – nicht ohne ihre Antwort mit zu überliefern: »Oft denke ich an einen Ausspruch – ich glaube von Talleyrand: ›Es gibt keinen großen Herrn für seinen Kammerdiener.‹ Und bitte, sag aufrichtig: Gibt es für uns Geniefrauen ein Genie?«
Die Heterogenität der Mentalitäten, die Berta Zuckerkandl in ihrem Salon zusammenzubringen verstand, lässt die musikalische Moderne in Wien in einem durchaus schillernden Licht erscheinen: Denn hier wird zweierlei erkennbar. Zum einen dass »Moderne« keine absolute Größe ist, die sich messen ließe, und zum anderen dass sich die ästhetischen Neupositionierungen nicht ohne die Wurzeln in der Tradition denken lassen. Vielmehr begegnen sich Moderne und Tradition auf Schritt und Tritt, reiben sich aneinander. Damit sind die zahllosen Bearbeitungen von Strauß-Walzern aus dem Schönberg-Kreis nicht nur als Gelegenheitsarbeiten oder gar »Petitessen« erklärlich, sondern als ein produktives Umgehen mit durchaus gegenwärtigem Material; und vor diesem Hintergrund liegen auch viele Mahler-Lieder in ihrer ironischen Brechung des Romantischen nicht weit von den Überzeichnungen des Romantischen in den Wiener Operetten entfernt. Zumindest ist ihnen der gleiche Nährboden anzumerken, der beides hervorbringt. Im Salon der Berta Zuckerkandl war für Tradition und Moderne in all ihren Schattierungen Platz. Dafür wünschte sie allen, die bereit waren, an der Heterogenität der Moderne hörend, sehend und denkend teilzunehmen »neue Ohren, neue Augen, neue Gehirnwindungen« – wie sie anlässlich der Schönberg-Skandale 1908 schrieb.
Melanie Unseld