Seelenvoll
Romantische Musik von Dvořák, Schubert und Strauss
Sehnsucht nach der unbedingten Liebe: Dvořáks Rusalka als Orchestersuite
»Ein jeglich Werk, das Gott geschaffen hat, deß Wesen und Eigenschaft ist dem Menschen möglich zu ergründen« – dies festzuhalten war Paracelsus wichtig, denn der Schweizer Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker und Philosoph Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, der sich Paracelsus nannte, stellte seine Lehre von den Elementarwesen sehr deutlich in einen christlichen Zusammenhang: Da Menschen Elementarwesen »ergünden« können, müssten auch diese göttliche Geschöpfe sein. Aber, so Paracelsus in seinem 1566 erschienenen Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus, diese göttlichen Geschöpfe seien von besonderer Art: seelenlos! »Als nämlich die Wasserleute kommen aus ihren Wassern heraus zu uns, lassen sich kennen, handeln und wandeln mit uns, gehen wieder hinweg in ihr Wasser, kommen wieder, alles dem Menschen zu einem Ansehen göttlicher Werke. Nun aber sind sie Menschen, aber allein im Tierischen, ohne die Seele.«
Es wäre heute nicht weiter interessant, sich einem Mystiker des frühen 16. Jahrhunderts und seiner ausgefeilten imaginierten Elementarwesenwelt genauer zu widmen, wenn dieses Biotop und seine fischschwänzigen, ätherischen, zwergenähnlichen und feuernahen Bewohner nicht eine erstaunliche Rezeption bis in die jüngste Moderne erfahren hätten. Richard Wagner ließ sie in seinem Ring des Nibelungen gleich alle paradieren: die Rheintöchter als nymphae, den sprechenden Waldvogel als Verkörperung der sylphae, die bergbewohnenden Nibelungen-Sippe und die Feuergestalt Loge. Andere Rezeptionsstränge greifen jeweils eine bestimmte Spezies der vier Elementarwesen heraus, wobei die »Wasserleute« wohl die weiteste Verbreitung fanden: von den Donauweibchen über die einflussreiche Undine des Friedrich de la Motte Fouqué und Hans Christian Andersens Kleiner Seejungfrau, die slawischen Rusalken oder Sadkos Wasserfrauen, über unzählige Gedichte zu Nymphen, Melusinen, Seegespenstern, Nixen, zu Lorelei und schöner Lau bis hin zu Ingeborg Bachmanns Abgesang Undine geht oder jüngeren filmischen Aneignungen wie Pirates of the Caribbean und Ondine. Diesen Figuren – in all ihrer Unterschiedlichkeit – ist eigen, was Paracelsus bereits betont hatte: Sie können für Menschen sichtbar werden, ihn begegnen. Sie besuchen die Menschenwelt »als ein Pilger, der in fernen Landen gewesen wäre«, so der Renaissance-Autor. Vor allem aber sind sie seelenlos.
Eine Seele zu gewinnen bleibt der Wasserwesen sehnlichster Wunsch, der nur auf eine besondere Weise in Erfüllung gehen kann: in der Liebe zu einem Menschen. Diese Liebe freilich muss unbedingt sein – Untreue bedeutet für das Wasserwesen den Tod. Dieser aber ist besonders grausam, da die Untreue überdies zum Verlust der nur unter Opfern erlangten Seele führt. Das Schicksal der Wasserwesen ist daher das aller Seelenlosen: außerhalb der christlichen Todesvorstellung bleibt ihnen nur das Irrlichtern. Hans Christian Andersen beschreibt diesen Seinszustand der nunmehr toten Seejungfrau auf eine Art und Weise, die nicht zuletzt erkennen lässt, warum gerade hier – im irrlichternden Tod der Wasserfrau – ein ungemein anregender Motivkern für die Musik lag. Denn die Seejungfrau, die ihre »herrliche Stimme dahingegeben und täglich unendliche Schmerzen erlitten hatte«, erhält nun eine Stimme zurück, die kaum menschlich, kaum individuell zu sein scheint, vielmehr eine »Stimme wie Sphärenklang, aber so geistig, dass kein menschliches Ohr sie vernehmen, wie auch kein irdisches Auge diese himmlischen Wesen erblicken konnte«.
Welch Anreiz für Komponisten, eine solche Stimme zu imaginieren und den menschlichen Ohren doch zu hören zu geben! Viele von ihnen sind dieser Motivspur gefolgt, haben vokale oder auch instrumentale Musik für die Frage entworfen, auf welche Weise wohl eine »Stimme wie Sphärenklang« mit den Mitteln der Tonkunst dargestellt werden könnte. Um nur eine kleine Auswahl Revue passieren zu lassen: Von 1798 an hatte das Singspiel Das Donauweibchen großen Erfolg auf deutschen Bühnen, E. T. A. Hoffmanns Undine nach Fouqué wurde 1816 uraufgeführt, Albert Lortzing legte 1845 seine gleichnamige Oper nach, Nikolaj Rimsky-Korsakow hat sich gleich mehrfach dem Sadko-Stoff gewidmet, Alexander von Zemlinsky vollendete 1903 seine Orchesterfantasie Die Seejungfrau, nur zwei Jahre nach der Uraufführung von Antonín Dvořáks Oper Rusalka. Hans Werner Henzes Undine (1956/1957) und Lera Auerbachs Little Mermaid (2004/2007) entstanden als Ballettkompositionen – die Faszination des Wasser-Elementarwesens scheint ungebrochen.
Als Antonín Dvořák die Oper Rusalka komponierte, lagen ihm zwar Andersens und Fouqués Texte vor, er verwob sie aber mit Erzählungen von den in der slawischen Mythologie beheimateten Naturwesen der Rusalken. Dem in eine Zeit von Urbanisierung, Industrialisierung und Modernisierung geworfenen Komponisten war die Verklanglichung einer belebt-beseelten Natur besonders wichtig. In seiner Rusalka-Musik widmet Dvořák daher der Naturwelt all jene Formen und Klänge, die »zivilisierte Ohren« mit Naturhaftem verbinden: Kreis- und Rondoformen, quasi improvisierte Melodik, eine Instrumentation, die akustische Naturphänomene einzufangen versucht, auch jene erschreckenden, etwa wenn aus der Tiefe bedrohliche Tremoli jäh auffahren. Die besagten zivilisierten Ohren, auf die Dvořák abzielt, scheinen nicht nur Naturhaftes mit diesen Klängen verbinden zu sollen. Vielmehr ließ er nichts unversucht, die Sehnsucht nach einer solcherart belebt-beseelten Natur mit einzukomponieren. Jene Sehnsucht, die auch der Rusalka genuin zu eigen ist und der sie ihre eigene Existenz aufopfert: Das Verlangen nach der unbedingten Liebe. Dvořáks Protagonistin ist eine Pilgerin, die das ferne (Menschen-)Land gesehen und erfahren hat; und sie weckt dort das Sehnen nach jener Natur, die von Menschenhand unberührt geblieben ist.
Rusalka muss, so verlangt es das Märchen, lange schweigen (für die Hauptfigur einer Oper eine Herausforderung!). Erst im Moment ihres Todes kann sie sich singend ihrem Geliebten offenbaren. Dieser Moment ist es, der kompositorisch Vokales und Instrumentales in eins fließen lässt, in dem jene »herrliche Stimme« sowohl im Sopran als auch im Orchester hörbar wird. Dvořáks Oper bezieht ihren Reiz aus dem hörbar-unhörbaren Zwischenzustand der Rusalka. In eine Orchesterbearbeitung transferiert, verflüchtigt sich jener Effekt, dass eine seelenlose Figur qua Stimme für das Publikum hörbar wird, für den Prinzen aber stumm bleiben muss. Die Stimme »fließt« nun ins Orchester ein. Manfred Honeck, der aus Dvořáks Rusalka eine Suite zusammengestellt hat, und Tomáš Ille, der sie orchestrierte, lösen dies ganz in der langen Tradition der Wasserfrauen-Stimmen: Rusalkas Stimme wird im Moment ihres musikalischen Höhepunktes in der Oper, des Lieds an den Mond, auf die Solo-Violine übertragen, die (zusammen mit der Harfe) als »Stimme« schon viele Komponisten überzeugt hatte: die Solo-Geige im Wogen des Orchestergesamtklangs scheint derjenige Klangeindruck zu sein, der am eindrücklichsten jene »Stimme wie Sphärenklang, aber so geistig, dass kein menschliches Ohr sie vernehmen [kann]«, nachzubilden vermag.
Seelenreisen: Schubert- und Strausslieder mit Orchesterbegleitung
Auf Seelenreise gehen auch die Lied-Dialoge des heutigen Konzertprogramms: Die Texte der in orchestrierten Fassungen aufgeführten Lieder von Franz Schubert und Richard Strauss vagabundieren zwischen Liebe, Tod und der Frage, welches Land wohl die Seele in beiden Zuständen bewohnt? Da ist, in Otto Julius Bierbaums Gedicht, das Strauss 1895 vertonte, die Rede von den »weiten Wiesen im Dämmergrau«, durch die das lyrische Ich hindurchgeht: »Ich gehe nicht schnell, ich eile nicht; / Mich zieht ein weiches, samtenes Band / Durch Dämmergrau in der Liebe Land, / In ein blaues, mildes Licht.«
Strauss entschied sich, jene Liebes-Seelen-Wanderung kompositorisch durch einen langsam schreitenden (Vortragsanweisung: nicht schleppen!) Tonleitergang über eine Oktave in die Singstimme zu legen, womit wir jenes samt-weiche Band mit seinem unwiderstehlichen Zug hörend miterleben können. Die Reise einer liebenden Seele. Vom Seelen-Gang spricht auch jenes Zwischenreich, in dem die toten Seelen Rast machen können, um an Allerseelen von den Lebenden umsorgt und erinnert zu werden. Schubert fasste diese fürsorgliche Liebe in einer empfindsamen Litanei in Töne, Strauss subjektiviert das Allerseelenfest, indem er den Beginn der Liebe im Mai mit jener Pforte zum Totenreich im November in Beziehung setzte. Die Symbole der Liebe und des Todes – ohnehin eine für die Jahrhundertwende faszinierende Klammer allen Seins – werden von Strauss wie klangliche Edelsteine in Spitzentöne gefasst. Und traut der Hörer, traut die Begleitung – hier in der Orchesterfassung von Strauss selbst vielleicht noch prägnanter als in der Klavierfassung – der Ruhe, die die Seele nach langer Reise erreichen soll? »Ruhe, ruhe, meine Seele, und vergiss, was dich bedroht!« Oder findet sie möglicherweise erst im letzten Ton jenen endgültigen Frieden, wenn sich die harmonische Unruhe und die klangvollen Bedrohlichkeiten ihrer langen Erinnerungsreise im Vergessen aufgelöst zu haben scheinen? Seelenreisen – auf diesen Nenner lassen sich alle Kompositionen des heutigen Lieder-Dialogs zwischen Schubert und Strauss bringen – regen zum Lauschen in weit entfernte Welten an: seien sie erfüllt von tönend-tosenden Wellen oder klar konturierten Litaneien, von feingliedrigen Klangflächen für die Glücksempfindungen eines verliebten Fischers oder von schimärenhaften Klängen bis hin zu einem einzelnen Ton – inklusive endgültigen Verstummens.
Nicht auf eingefahrenen Gleisen: Dvořáks Achte Symphonie
Weitaus diesseitigere Züge als die seelenreisende Rusalka-Musik trägt Antonín Dvořáks Achte Symphonie: gewohnt viersätzig in für die Gattung erwartbarer Abfolge, von Beginn an (vor allem zunächst in England) überaus beliebt, vom Komponisten 1891 ganz diesseitig auch als »Dankesgabe« für die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität von Cambridge ebendort aufgeführt. Und doch hat diese Symphonie zunächst vor allem irritiert: Denn der kompositorische Weg, den Dvořák in seinen sieben vorangegangenen Symphonien ebenso konsequent wie erfolgreich gegangen war, schien mit der Achten Symphonie abgebrochen zu sein; ja das Werk sei »den Begriffen nach, an die die europäische Musikwelt seit Haydn und Beethoven gewöhnt ist, kaum noch eine Symphonie zu nennen, dafür ist sie viel zu wenig durchgearbeitet und in der ganzen Anlage zu sehr auf lose Erfindungen gegründet«, so der Musikschriftsteller Hermann Kretzschmar. Und selbst Johannes Brahms, Dvořáks größter Förderer und Fürsprecher, zeigte sich gründlich verstört: »Zu viel Fragmentarisches, Nebensächliches treibt sich da herum. Alles fein, musikalisch fesselnd und schön – aber keine Hauptsachen!« Keine Hauptsachen? Das musikalische Narrativ, das Dvořák seiner Achten zugrunde legte, zielt in der Tat nicht auf die klare, zum Ende des Jahrhunderts möglicherweise allzu klare Symphonie-Konzeption, nicht auf deren »Hauptsachen« wie Großform, harmonische Prägnanz und thematisch-motivische Arbeit, sondern auf das Rhapsodische. Dvořák spinnt aus, verwebt musikalische Gedanken mit Haupt- und Nebensträngen, reiht aneinander, lässt sich Zeit zum Erzählen… Auch wenn in der Symphonie das Semantische – etwa in Form eines Programms – keine Rolle spielt, ist es der Gestus des Erzählens, der diesem Werk seine Charakteristik verleiht.
Möglicherweise ist die Abkehr von einer Idee des Symphonischen brahmsscher Prägung durch Dvořáks Begegnung mit Peter Tschaikowsky motiviert worden. Dieser hatte auf einer Konzertreise Prag besucht, und der böhmische Kollege hatte sich mit ihm über dessen Fünfte Symphonie ausgetauscht. So liegt es nahe, dass Dvořák seinen neuen Gattungsbeitrag als künstlerischen Dialog zu jener Fünften von Tschaikowsky anbot, zumal er eine Konzertreise nach Russland plante und dafür eine (neue) Symphonie benötigte. Doch Dvořák war auch ein durch und durch pragmatischer Komponist: Unmittelbar nach Vollendung der Achten Symphonie drängte sich England in den Vordergrund, und so nahm er diese neue, Anfang Februar 1890 in Prag uraufgeführte Schöpfung auf seine Reise dorthin mit, wo sie verlegt und vielfach mit großem Erfolg aufgeführt wurde.
Melanie Unseld