Intime Geständnisse, Haydn und jede Menge Spaß: die Konzerte im Kammermusiksaal

Von Frederik Hanssen

Claudio Abbado leitet am 13. Dezember 1999 vom Cembalo aus ein Konzert mit Alter Musik
(Foto: Reinhard Friedrich)

Es war ein Abend der Extreme. Ein Musikerlebnis an der Grenze zur Unhörbarkeit. Luigi Nonos Spätwerk Prometeo hatte Claudio Abbado im Herbst 1999 ausgesucht, als geistig-klangliche Verbindung des Musikprogramms mit der großen Festwochen-Ausstellung zum 20. Jahrhundet. Sehr sensibel und mit philharmonischer Präzision ließen die im Kammermusiksaal verteilten Musiker und Gesangssolisten Nonos Klanglandschaften im Pianissimo-Schatten wachsen, aus archaischen Bläsertönen, flirrenden hohen Streicherflageoletts, formlosem Bassbrummen, elektronisch mit Hall versehenen Stimmen, die unverständliche Worte formen. Und viele im Publikum waren beglückt, dem Alltag des Großstadtlärms entfliehen und diesem verwirrenden Wellenspiel des Prometeo nachlauschen zu können. Es sind Konzerte wie dieses, die vor dem inneren Ohr auftauchen, wenn man an ein Vierteljahrhundert Kammermusiksaal zurückdenkt. Live-Erlebnisse, die noch lange nachklangen. Außergewöhnliche Ereignisse. Und in diesem Fall auch einer der wenigen Momente, in denen auf musikalische Weise ein direkter Kontakt zwischen dem Kammermusiksaal und der Philharmonie entstand. Weil Abbado zunächst im großen Saal mit dem ganzen Orchester Gustav Mahlers Neunte Symphonie aufführte, um anschließend mitsamt des Publikums für das zeitgenössische Werk herüber zu wandern in die intimere Spielstätte.

Künstlerische Heimat für philharmonische Ensembles und andere Musikgrößen

Selten sind solche direkten Berührungen zwischen den beiden Hälften des Scharoun-Baus geblieben in den vergangenen Jahren. Eigentlich führte der Kammermusiksaal stets ein Eigenleben à part. Und es war durchaus ein apartes Eigenleben. Wer zählt die durchreisenden Stars, die hier vom Publikum gefeiert wurden? Aber auch so manche Berliner Kulturgröße hat im Kammermusiksaal ihre künstlerische Heimat gefunden, der unermüdliche Frank Dodge beispielsweise mit seinen Spectrum Concerts, aber auch das Artemis Quartett oder Andreas Peer Kähler mit seinem Kammerorchester Unter den Linden. Eigentlich aber entstand das Haus, um den mannigfaltigen Kammermusikaktivitäten der Berliner Philharmoniker einen angemessenen Rahmen zu bieten. Und sie haben ihn weidlich genutzt.

Die offizielle Eröffnung am 28. Oktober 1987 ist natürlich Chefsache. Bei seinem einzigen Auftritt im Kammermusiksaal dirigiert Herbert von Karajan Vivaldis Vier Jahreszeiten, angemessen festlich, mit Anne-Sophie Mutter als Solistin. Direkt im Anschluss sind bei einem Philharmonischen Kammermusikfest dann aber schon jene orchestereigenen Formationen zu hören, die die Geschichte des Hauses prägen werden. Das Scharoun Ensemble, das Philharmonia Quartett, das Brandis Quartett und die 12 Cellisten. Außerdem die Philharmonischen Solisten, das Philharmonische Oktett, die Bläser der Berliner Philharmoniker, das Philharmonische Klavierquartett, das Philharmonische Klaviersextett sowie – im Foyer – die philharmonischen Schlagzeuger. Ab 1997 werden die Musiker die Idee einer stundenlangen Bespielung des ganzen Gebäudes dann wieder aufgreifen, mit dem Brahms-Marathon, dem in den kommenden Jahren Langstreckenkonzerte zu Mozart, Schubert, Mendelssohn/Schumann, Beethoven, Haydn respektive französischer Musik folgen. »Es war für uns eine Riesenehre, dass wir als erstes Kammermusikensemble in dem neuen Saal auftreten durften«, erzählt Peter Riegelbauer, Mitbegründer des Scharoun Ensembles, Kontrabassist und langjähriger Orchestervorstand.«

Die Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan und Anne-Sophie Mutter eröffnen den Kammermusiksaal mit Vivaldis »Vier Jahreszeiten«
(Foto: Reinhard Friedrich)

Raum für Musik – Raummusiken

Nach dem Tutti-Tusch der Einweihungsfeier kehrt wieder Stille ein im Kammermusiksaal, ein volles Jahr lang. Erst zur Saison 1988/1989 nehmen die Philharmoniker den Neubau wirklich in Besitz. Ganz vorne dran ist erneut das Scharoun Ensemble, die Truppe, in der sich die neugierigsten Köpfe des Orchesters versammeln, um frisch Komponiertes zu spielen. In diesem Fall die Uraufführung von Isang Yuns abendfüllenden Distanzen für Bläser und Streichquartett. »Mit Yun, der ja in Berlin lebte, verband uns bereits eine enge persönliche Beziehung«, berichtet der Cellist Richard Duven: »Sein Oktett hatten wir oft gespielt, nun wollte er ein Stück schreiben, das klanglich alle Möglichkeiten des neuen Saals ausschöpfte. Von den zehn Mitwirkenden spielten nur Bratsche, Cello und Kontrabass auf der Bühne, die übrigen waren auf der Klangempore verteilt – daher der Titel Distanzen

»Wisniewski hatte sich erhofft, dass seine Saalgestaltung eine ganze Flut solcher Raummusiken auslösen würde«, erinnert sich Peter Riegelbauer. »Tatsächlich blieb es aber bei ganz wenigen Versuchen.« Aus zwei ganz pragmatischen Gründen, wie der Musiker vermutet: »Zum einen wollen Komponisten ja, dass ihre Werke überall aufführbar sind und nicht nur an einem speziellen Ort. Parallel zu den Konzerten des Scharoun Ensembles startet 1988 auch noch ein zweites Projekt zur Förderung der Musik des 20. Jahrhunderts, die Neue Reihe, geleitet von Peter Keuschnig, einem Wiener, der als künstlerischer Leiter am Theater des Westens engagiert war. Wie viele Instrumentalisten bequem auf dem Podium Platz haben, testen die Philharmoniker bei einem Abend mit Haydn-Symphonien aus, den Christopher Hogwood leitet. Überhaupt steht Haydn zu Beginn hoch im Kurs: 1989 setzt das Orchester mit Paavo Berglund das Projekt fort, auf Einladung der Philharmoniker spielen zudem das Stuttgarter Kammerorchester sowie das Chamber Orchestra of Europe Haydn-Programme. Dann aber wird der Saal plötzlich für das gesamte symphonische Repertoire gebraucht, denn die Philharmonie muss für Renovierungsarbeiten geschlossen werden. Den Anfang macht im Januar 1991 kein anderer als Simon Rattle. Bis zur Wiedereröffnung der Philharmonie im April 1992 werden im kleinen Saal noch Großmaestri wie Levine, Giulini und Barenboim, Harnoncourt, Haitink und natürlich Abbado zu erleben sein. Vor allem der italienische Chefdirigent hatte Gefallen am Kammermusikaal gefunden. Er wird ihn künftig mit einbeziehen bei seinen thematischen Saison-Zyklen, dem Hölderlin-, Faust- sowie dem Tristan und Isolde-Zyklus.

Sir Simon Rattle mit Mitgliedern der Berliner Philharmoniker und der Orchester-Akademie, 2003
(Foto: Cordula Groth)

Neue Ensembles und Konzertreihen

Kammermusiksaal: Die 14 Berliner Flötisten geben ihr Debüt, gegründet nach dem Vorbild der berühmten Cello-Truppe, und Solo-Oboist Hans-Jörg Schellenberger, der sich zunehmend auch als Dirigent profiliert, startet eine eigene Konzertreihe mit seinem Haydn-Ensemble. Im Winter findet das erste philharmonische Alte-Musik-Konzert statt. Aus den Mitwirkenden gehen schließlich die Berliner Barock Solisten hervor. Unter dem putzigen Titel Sonntags um vier – Klavier wird das Orchester zudem zum Konzertveranstalter. Weil die kommerziellen Veranstalter zunehmend das Kostenrisiko scheuen, beim breiten Publikum noch wenig bekannte Virtuosen zu engagieren, etabliert das Orchester eine eigene Präsentationsplattform: Arcadi Volodos, Roger Muraro, Mihaela Ursuleasa und Pierre-Laurent Aimard sind die Solisten des ersten Jahrgangs.

Später entschließen sich die Philharmoniker dann auch, das chronisch unter Publikumsmangel leidende Genre des Liederabends zu unterstützen. Und es wird die Reihe Originalklang begründet, für die Spitzenensembles der Alte-Musik-Szene engagiert werden. Regelmäßig sind ab 2003 natürlich auch Pianisten und Instrumentalisten im Kammermusiksaal zu erleben, die von den Philharmonikern zu einer Residency eingeladen sind – sowie natürlich die Stipendiaten der Karajan-Akademie. Seit dem Frühjahr 2009 veranstalten die Musiker zudem im Rahmen der Aktivitäten der Education-Abteilung ihre Familienkonzerte auch im Kammermusiksaal. Eine ganz eigene Erfolgsgeschichte ist der Philharmonische Salon, den der langjährige Solocellist Götz Teutsch im Winter 2000 erfindet. Seine Idee, wichtige Momente der Musikgeschichte zu musikalisch-literarischen Live-Hörspielen zu verdichten, hat bald so viele Fans, dass man sich entschließt, die Nachmittage ab der Saison 2011/2012 jeweils doppelt zu spielen.