»Es schmeckt dir, oder es schmeckt dir nicht.«

Kaija Saariaho erzählt von der Entstehung ihres neuen Werks »Vista«

Farben, Texturen, Spektren: Wenn die finnische Komponistin Kaija Saariaho über ihre Musik spricht, könnte man den Eindruck gewinnen, sie beschreibe ein Gemälde. Und obwohl sie sich selbst in gewisser Weise als Synästhetikerin versteht und sich von Kunst und spontanen Eindrücken inspirieren lässt, geht sie beim Komponieren zunächst eher planvoll und mathematisch vor. Bekannt ist sie vor allem für ihre Kompositionen mit Live-Elektronik. Als Auftragswerk für die Berliner Philharmoniker und weitere namhafte Orchester hat sie mit Vista nun ein reines Orchesterwerk geschaffen, das unter der Leitung von Susanna Mälkki am 22. Mai 2021 seine deutsche Erstaufführung erlebte. Im Gespräch erzählte uns Kaija Saariaho, wie das Werk entstanden ist und warum Musik hören, wie Kuchen essen ist.
 

Der Titel Ihres neuen Auftragswerks Vista verspricht Musik, die visuelle Eindrücke erzeugt. Was hatten Sie vor Augen, als Sie das Stück komponierten?

Vor diesem Stück hatte ich lange Zeit – sieben Jahre, um genau zu sein – an meiner Oper Innocence gearbeitet, die dieses Jahr beim Festival in Aix-en-Provence uraufgeführt wird. Als die Oper fertig war, fühlte ich mich frei von dieser Arbeit und wollte etwas ganz anderes schaffen. Als ich eines Tages mit meinem Mann von Los Angeles nach San Diego fuhr, konnte ich das Meer neben mir sehen, und ich bat ihn, näher heranzufahren. Dieser offene Blick fühlte sich an wie mein gegenwärtiger Zustand: Ich konnte neue Horizonte und eine Weite sehen, die sich mit dem Freiheitsgefühl deckte, das ich nun empfand. Wir fuhren eine Weile, und es gab viele Schilder, auf denen »Vista« stand, um auf die verschiedenen Aussichtspunkte hinzuweisen. Und so bekam das neue Werk seinen Namen.

Wie war dann der Weg von der Inspiration zum fertigen Werk?

Es ist nicht so, dass ich versucht hätte, die Szenerie der Küste in Musik umzusetzen. Diese Inspiration blieb im Hintergrund. Der Prozess des Komponierens ist sowohl abstrakter als auch praktischer. Oft liefert so eine erste Inspiration zum Beispiel formale Ideen. Wenn ich dann mit der eigentlichen Komposition beginne, definiere ich zunächst das harmonische Material und stelle mir bestimmte Instrumentalfarben und musikalische Texturen vor. Mit jedem neuen Werk versuche ich, mich zu erneuern und herauszufordern, und dieses Mal wollte ich das Orchester anders als sonst besetzen. Normalerweise verwende ich in meinen Partituren immer die Celesta, die Harfe und das Klavier. Stattdessen habe ich mich diesmal auf Blasinstrumente konzentriert, vor allem auf die verschiedenen Instrumente der Holzbläserfamilie: Bei Vista gibt es Flöten in verschiedenen Größen, die Oboen werden mit dem Englischhorn kombiniert, und bei den Klarinetten gibt es auch die kleinere Es-Klarinette und die Bassklarinette.

Ihr Werk besteht aus zwei kontrastierenden Teilen: Horizons und Targets. Warum haben Sie sich für diese Aufteilung entschieden?

Ich wollte mit demselben musikalischen Material zwei kontrastierende und formal unterschiedliche Sätze schaffen. Wo der erste Satz unabhängige Linien hat, die sich manchmal in reine Farbtexturen ohne Puls verwandeln, hat der zweite Satz eine klare physische Energie und Entschlossenheit. Hier vervielfachen sich die rhythmischen Elemente zu eindringlicher Tutti-Einstimmigkeit und vielschichtigen Höhepunkten, bevor das Werk endet und die ruhigen Texturen des Anfangs neu interpretiert werden.

Kaija Saariaho (Foto: Prisca Ketterer)Kaija Saariaho (Foto: Priska Ketterer)

Die Uraufführung fand am 12. Mai 2021 mit dem Philharmonischen Orchester Helsinki unter der Leitung von Susanna Mälkki statt. Sie wird auch die deutsche Erstaufführung mit den Berliner Philharmonikern dirigieren. Wie war die Zusammenarbeit mit ihr und wie war es, Ihr Werk zum ersten Mal zu hören?

Wenn ich komponiere, habe ich oft einen bestimmten Musiker oder eine bestimmte Musikerin im Kopf, in diesem Fall Susanna Mälkki. Wenn ich an Opern arbeite, schaffe ich für jede Figur eine eigene Musik, und wenn ich an Konzerten arbeite, bringe ich oft etwas von der Solistin oder dem Solisten in die Musik ein, entweder intuitiv oder mit Absicht. In diesem Orchesterstück ist Susanna die Interpretin, und vielleicht hat etwas von ihrer musikalischen Persönlichkeit meine kompositorischen Entscheidungen geleitet.

Sie geht sehr sensibel mit meiner Arbeit um, kennt die neue Partitur schon vor der ersten Probe sehr gut und versteht meine Musik. Dennoch ist sie in der Lage, dem Werk auch ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Das ist keine Selbstverständlichkeit.

Es ist immer ein ganz besonderes Gefühl, ein Werk zum ersten Mal zu hören. Bis dahin ist die Musik nur in meinem Kopf, und sie bleibt in gewisser Weise abstrakt. Diesmal war es sogar noch spezieller, denn Vista hätte schon letztes Jahr uraufgeführt werden sollen, also haben wir lange warten müssen. Ich war in Helsinki bei den Proben und dann bei der Uraufführung, die live übertragen wurde, und ich saß ganz allein im Zuschauerraum. Ich war so glücklich und dankbar, lebendiges Musizieren in einem Raum mit wirklichen Musikern zu erleben. Wobei ich durch dieses Glück weniger kritisch mit mir und meiner Arbeit war als sonst.

Bei den Berliner Philharmonikern wird das Stück mit voller Streicherbesetzung gespielt. Und jedes Orchester hat seinen ganz speziellen Klang, deshalb freue ich mich sehr darauf, das Stück in der Digital Concert Hall zu hören.

Sie arbeiten in Ihren Kompositionen oft mit Live-Elektronik. Welche Erfahrungen und Erkenntnisse aus der elektronischen Musik beeinflussen Ihre Werke für »klassisches« Orchester?

Ich nehme viel von meinen Erfahrungen mit Elektronik mit in die Komposition von Instrumentalmusik. Während meiner Arbeit am Ircam (Anm. der Red.: Institut de recherche et coordination acoustique/musique in Paris) habe ich komplexe Klänge und ihre Wahrnehmung mit Computer-Klanganalyseprogrammen studiert, und das hat mir geholfen, neue Wege zu Klangfarben und zur Orchestrierung zu finden. Dieses Wissen hat meine Arbeit mit elektronischen Stücken und Orchestermusik bereichert, wobei es sich natürlich mit kreativen Elementen, Gefühlen und intuitiven Entscheidungen mischt.

Aber ich möchte dem Publikum nicht vorschreiben, wie es meine Musik hören sollen. Ich denke, dass Musik von verschiedenen Menschen mit verschiedenen Hintergründen sehr unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Ich hoffe, dass meine Musik auf möglichst offene Ohren trifft. Es ist wie beim Essen eines Kuchens. Wenn du kein Konditor bist, analysierst du die Bestandteile des Kuchens nicht, er schmeckt dir oder er schmeckt dir nicht. Und genauso wünsche ich mir, dass die Leute meine Musik hören.


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