
»An die Grenzen und darüber hinaus«
Kirill Petrenko über seine erste Saison als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker

Liebes Publikum!
Zum ersten Mal darf ich an dieser Stelle das Wort an Sie richten. Vier Jahre ist es nun her, dass die Berliner Philharmoniker mich zu ihrem Chefdirigenten gewählt haben; weitere neun Jahre davor, 2006, habe ich erstmals in einem Konzert vor diesem Orchester gestanden. Uns verbindet also schon eine recht lange Zeit der Bekanntschaft; vor allem jedoch verbindet uns eine sehr intensive Phase der Vorbereitung – mit vier Programmen, die wir seit der Wahl miteinander gestaltet haben, in Berlin und auf einer ersten kleinen Tournee. Meine persönliche Vorfreude auf das, was nun vor uns liegt, ist mit jeder Probe, mit jedem Abend gemeinsamen Musizierens noch gewachsen, und im selben Maße ist mein Respekt vor diesem in jeglicher Hinsicht außergewöhnlichen Orchester und seinen Mitgliedern weiter gestiegen.
Die Traditionen des Orchesters
Schon vor meinem Debüt 2006 habe ich die Berliner Philharmoniker als ein Ensemble von Künstlern empfunden, die in der Lage sind, in jeder Aufführung an ihre Grenzen zu gehen – und darüber hinaus, die mit einer Hingabe Musik machen, dass die Zuhörer unweigerlich fasziniert sind. Mit einem solchen Orchester zu arbeiten ist für jeden Dirigenten ein Geschenk. Zugleich ist es auch Ansporn und Verpflichtung. Mit einer gewissen Demut vor der großen musikalischen Vergangenheit dieser Institution trete ich nun also mein Amt in der Philharmonie Berlin an. Die Geschichte und die Tradition des Orchesters sollen, das ist mein Wunsch, eine große Rolle in unserer gemeinsamen Arbeit spielen. Hans von Bülows einst maßstabsetzende Interpretationen der Musik von Ludwig van Beethoven und Johannes Brahms gelten uns unverändert als Leitbild; im Wirken von Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan fand dies seine logische Fortsetzung. Das klassisch-romantische Repertoire dieser legendären Chefdirigenten wird weiterhin eine wesentliche Achse unserer Arbeit bilden. Die Beschäftigung mit Beethoven – mit Werken wie Fidelio, der Missa solemnis und der Neunten Symphonie – ist ein erster Baustein dabei.
Beethoven, Mahler, Suk
Ich möchte noch einige weitere Schwerpunkte unserer ersten Saison herausgreifen: Gustav Mahler beispielsweise wird für uns immer ein Fixstern sein. Für mich sind seine Werke wie ein Spiegelbild des Menschen in der Gesellschaft. Mahler hat gesagt, Symphonie heiße für ihn, »mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen«. Diese Welt auf dem Podium aufzubauen ist das, was wir in jedem Konzert aufs Neue versuchen. Dafür bringen die Berliner Philharmoniker durch ihre lange Mahler-Tradition eine große Vertrautheit mit, die in jüngerer Zeit insbesondere durch Claudio Abbado und Sir Simon Rattle vertieft worden ist, und ich freue mich, dass wir in dieser Saison gleich zwei Symphonien, die Vierte und die Sechste, interpretieren werden. Ein unmittelbarer Zeitgenosse Mahlers, aber viel weniger bekannt, ist Josef Suk. Seine Musik war für mich eine der größten Entdeckungen der vergangenen Jahre. Ich halte ihn nicht nur für einen der bedeutendsten tschechischen, sondern überhaupt für einen der wahrhaft großen spätromantischen Komponisten. Er ist ein Meister der Orchesterbehandlung und Instrumentationskunst; seine Werke haben einen sehr eigenen, spezifischen Klang, geprägt durch außerordentlichen Farbenreichtum und eine expressive Melodik. Auch Suks Musik schöpft aus dem Leben, ganz besonders in seiner Symphonie Asrael, in der er nicht nur die Trauer über den Tod seines Lehrers Antonín Dvořák, sondern auch den frühen Verlust seiner Frau Otylka, Dvořáks Tochter, verarbeitet. So, wie es für Mahler schließlich geschehen ist, muss Josef Suks Zeit jetzt endlich kommen. Dazu wollen wir mit unseren Konzerten, symphonisch wie kammermusikalisch, beitragen.
Russische Musik und Puccini
Und natürlich wird die russische Musik nicht zu kurz kommen, denn sie liegt mir seit jeher am Herzen. Schon Arthur Nikisch hat sich leidenschaftlich für russische Komponisten eingesetzt; auch hierin führen wir also eine Tradition fort – in dieser Saison beispielsweise mit Sergej Rachmaninows Symphonischen Tänzen. Was die Weitergabe und Vermittlung von Musik betrifft, haben die Berliner Philharmoniker in den vergangenen Jahren Maßstäbliches geleistet. Das wollen wir mit ungemindertem Engagement fortführen. Schon in meiner Jugend habe ich oft für Kinder musiziert: Wir sind übers Land gefahren, haben Dörfer besucht und in Scheunen Konzerte gespielt, um Menschen, die sonst nicht mit klassischer Musik in Berührung gekommen wären, etwas von der Schönheit und Ausdruckskraft dieser Kunst zu zeigen. Heute sind die Herausforderungen anders, und sie sind vielfältig.
Vor allem möchte ich meine Liebe zum Musiktheater weitergeben und zeigen, was für unglaubliche Ausdrucksmöglichkeiten diese Kunst gerade für junge Menschen bereithält. Mit den vereinten Kräften der Karajan-Akademie, der Vokalhelden und vieler junger Sängerinnen und Darsteller wollen wir Giacomo Puccinis Oper Suor Angelica aufführen. Sie handelt von einer jungen Frau, die in einer inhumanen Umgebung um ihre ganz persönliche Humanität kämpft: eine berührende, hochaktuelle Geschichte mit herrlicher Musik. Ich freue mich, mit diesem Vorhaben etwas von meiner Erfahrung auf diesem Gebiet einsetzen zu können. Die Osterfestspiele in Baden-Baden waren und bleiben eine feste Größe in unserer Saison, wo wir uns als Orchester im Opern- und Konzertbereich weiter profilieren können – eine unschätzbare Erfahrung, die auf alle unsere Aktivitäten abstrahlen wird. Ich hoffe, dass wir Ihnen, unserem Publikum, mit unseren Aufführungen bereichernde Erlebnisse bereiten können. Ich bin unsagbar froh, mit den Berliner Philharmonikern von nun an in einer engen Partnerschaft verbunden zu sein, und freue mich unendlich auf unsere vielen Projekte.
Herzlich
Kirill Petrenko