Raum – Musik – Mensch

Über die Architektur der Philharmonie von Hans Scharoun

Modell der Philharmonie

Wer heute Gebäude der globalen Kultur vor Augen hat – wie etwa das Guggenheim Museum des amerikanischen Architekten Frank O. Gehry in Bilbao, Spanien (1997) oder die Hamburger Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron – der kann sich kaum noch eine Vorstellung davon machen, auf welche Probleme Hans Scharouns Entwurf für die Philharmonie Berlin Mitte der 1950er-Jahre gestoßen ist. Und zwar nicht bei den anfangs staunenden Politikern oder begeisterten Architekturfachleuten, sondern vor allem bei den Konstruktions- und Baubüros. Heute beherrschen hoch aufgerüstete Designcomputer spielend die kompliziertesten Geometrien. Die Digitalisierung und Computerisierung des Baugeschehens hat die architektonische Bildwelt unserer Gegenwart mit einer konstruktiven und technischen Normalität gefüllt, die noch vor 20 oder 30 Jahren als verrückte und nicht baufähige Fiktion abgetan worden wäre. So muss es Hans Scharoun ergangen sein, als er vor 60 Jahren mit seiner räumlichen Vision von einem Konzertsaal, der architektonisch die Musik in den Mittelpunkt rückt, an die Berliner Öffentlichkeit trat.

Der Zeit voraus

De facto stand er noch vor Brigaden von technischen Zeichnern, die seine mit dem dicken 3b-Bleistift hingeworfenen Skizzen und Zeichnungen in Maß und Proportion zu übersetzen hatten, vor Kohorten von Bauhandwerkern, die für die Schalung des Betons Hand und Lehrgerüste anlegen mussten, und vor Ingenieuren, die im Denkraum der euklidischen Geometrie aufgewachsen und erzogen waren. Sie alle meldeten – und nicht zu Unrecht – Bedenken und Sorgen an, ob denn das fraktale und aus hängenden und ragenden Elementen zusammengesetzte Gebilde, das sie auf Scharouns Zeichnungen und Skizzen sahen, überhaupt in eine stabile Realität aus Stahl, Eisen, Beton und Holz zu überführen sei. Wer genauer hinsah, sah überall Knicke und Schrägen, abgebrochene Linien und Kanten im flachen oder weiten Winkel. Dass dieser Entwurf Scharouns im buchstäblichen Sinn unvertraut war, wird man keinem der damaligen Begutachter, Bauunternehmer und Handwerker verdenken wollen. Sie alle hatten weder Smartphone noch Tablets, die Zeichnungen in 3D visualisiert hätten, sondern nur eine Reißschiene mit Lineal und gespitztem Bleistift, Zirkel und Bandmaß, mit denen sie sich der Fantasie des großen architektonischen Autors nähern konnten.

Hans Scharoun (r.) und sein Schüler Edgar Wisnieswki (Foto: Reinhard Friedrich)

Die Standortfrage

Die Philharmonie war zunächst nicht für ihren heutigen Standort entworfen worden, sondern als Erweiterung des Joachimsthalschen Gymnasiums in Wilmersdorf, der heutigen Universität der Künste an der Bundesallee. Scharoun hatte den Wettbewerb, an dem sich zehn Architekturbüros beteiligten, 1957 gewonnen. Nach heftigen Debatten sowohl über die Architektur der Philharmonie selbst als natürlich auch über die Kosten des Neubaus fiel 1959 die Entscheidung des Berliner Senats, am südlichen Tiergartenrand ein neues Zentrum kultureller Bauten zu etablieren. Selbst nach damaligen, gewiss aber nach heutigen Kriterien waren die zunächst mit 7 Millionen DM berechneten – schließlich nach Umplanung und Verlagerung über 13,5 auf 17,5 Millionen DM gestiegenen Baukosten – gering, wenn nicht gar skandalös billig.

Doch war der eigentliche Grund für die Verlagerung an den Tiergartenrand nicht nur, wie oft irrtümlich verbreitet, das nähere Heranrücken an die Stadtmitte Berlins, sondern viel nüchterner: Er hing mit der städtebaulichen Vision Hans Scharouns zusammen, die er als Stadtbaurat des Berliner Magistrats von 1945 bis 1947 entwickelt hatte und die als »Berliner Kollektivplan« ein unrühmliches Nachleben führt. Demnach wollte Scharoun für den Wiederaufbau von Berlin bis auf sehr wenige Ausnahmen alle nach dem Luftbombardement noch stehen gebliebenen Häuser und Gebäude abreißen lassen, um die Stadt innerhalb eines gewaltigen Gitternetzes von Autobahnen nach Funktionen für Wohnen, Arbeiten, Verwaltung und Kultur getrennt vollständig neu zu errichten – aus heutiger Sicht eine Schreckensvision, mit der Scharoun jedoch keinesfalls allein stand. 

Scharouns Urskizze von 1956 (Foto: Archiv Akademie der Künste Berlin)

Bei der Umplanung für den neuen Ort brauchte Scharoun seinen Philharmonie-Entwurf nicht eingreifend zu überarbeiten. Er sollte dort als freistehendes, von allen Seiten ansichtiges Gebäude errichtet werden. Dennoch konnte das Grundmuster des Saalkörpers mit dem Orchester im Zentrum und einer im Großen und Ganzen L-förmigen, liegenden Mantelbebauung für Musiker, Verwaltung, Instrumente und weitere Diensträume beibehalten werden. Scharoun dachte radikal vom Inneren des Gebäudes her, nicht von seinem Außen. Diese Denk- und Entwurfshaltung charakterisiert ihn als Vertreter der organischen Moderne des Neuen Bauens im 20. Jahrhundert.

Inszenierter Raum

Lediglich die Eingangssituation musste überdacht und neu formuliert werden, da sie in Wilmersdorf durch das Joachimsthalsche Gymnasium hindurch hätte erfolgen sollen. Gerade hier aber ist Scharoun in Inszenierung und Wirkung etwas Großartiges gelungen. Unbezweifelbar ist die inszenatorische Raumfolge vom Baldachin überdachten Eingang durch die mild erleuchtete Kassenhalle zur dunkleren Kartenschleuse, hinter der sich nunmehr das lichte, abends festlich und urban belebte Foyer auftut, eine raumpsychologische Glanzleistung. Sie erzeugt eine Spannung, der man erotische Qualitäten zusprechen möchte. Beim Schlendern oder Eilen durch das Foyer und über diverse Treppen, Galerien, Balkone und Brücken bereitet sich in mehreren Etappen ein Höhepunkt vor, der schließlich beim Betreten des Großen Saals sein Ziel und seine Einlösung findet. Egal, wo man den Saal erreicht, ob in den höheren seitlich liegenden oder in den tiefer liegenden Blöcken, der Gang durch die verdeckten, wenig auffällig gehaltenen Zugangsschleusen löst die aufgebaute und gespeicherte Spannung befreiend auf. Auch das, nicht nur die formale Vielgestaltigkeit und kühne Höhe des Saals, macht ihn zu einer der beeindruckendsten und bedeutendsten Raumschöpfungen des 20. Jahrhunderts weltweit.

Dieses Städtebaumodell zeigt die Philharmonie am endgültigen Standort zwischen Kemperplatz und Matthäikirchplatz (Photo: Archiv Akademie der Künste Berlin)

Oft und immer wieder und zumal nach der Eröffnung der Philharmonie wurde versucht, das Kristalline der Emporen und Zuschauerhänge, die Zeltform der Decke, das schwer zu begreifende Hängen und Schweben der Schwer- und Leichtgewichte des Saalkörpers zu beschreiben und bildlich zu fassen. Scharouns eigene Metaphorik vom »Tal, auf dessen Sohle sich das Orchester befindet, umringt von den ansteigenden Weinbergen« der Zuschauerblöcke, hat ihre Poesie behalten, ist uns aber mit dem Landschaftspathos im architektonischen Kontext fremd geworden. Auch die dreifache Verschränkung der Pentagone (Fünfecke) Raum – Musik – Mensch, die zum Signet der Philharmonie geworden sind, ist als Intention und ideelle Referenz des Architekten glaubhaft und schön, besitzt jedoch keine unmittelbare raum-bildliche Evidenz.

Durchlässig, harmonisch, festlich

Entscheidend dürfte vielmehr sein, dass dieser so facettenreich komponierte Raum mit seiner einzigartigen inneren Porösität, der vollständigen Durchlässigkeit aller Zuschauerblöcke untereinander sich für den Betrachter intuitiv zum harmonischen Raum fügt, ohne zu imponieren. »Erinnere Dich an den Eindruck guter Architektur«, notierte der Philosoph Ludwig Wittgenstein, »dass sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte ihr mit einer Geste folgen.« Im Saal der Philharmonie hat diese Geste den Charakter bergender Festlichkeit.

Die Berliner Philharmonie schließlich hat außen wie innen den Lackmustest der Zeit fraglos bestanden. Ja, man darf sie geradezu als Exempel für das Paradox der Zeitlichkeit in der Architektur anführen. Gerade weil Hans Scharoun sich architektonisch und biografisch erfahren, ohne jedes Schielen auf Dauer oder Ewigkeit, rigoros zur eigenen Gegenwärtigkeit entschieden hat, konnte sein Werk aus sich heraus die Überzeitlichkeit gewinnen, die wir noch heute genießen und bewundern.

(Gekürzte Fassung des Originaltextes von Gerhard Zohlen für das Programmheft zum 20. Oktober 2013)